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Das Hohelied des Todes

Das Hohelied des Todes

Titel: Das Hohelied des Todes
Autoren: Faye Kellerman
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Geschäftsleute. Sie wohnen in New York.«
    »Da haben wir haufenweise Verwandte«, meldete Jake sich aufgeregt zu Wort. »Wir haben eine Bobe und einen Sejde und zwei Uromas und jede Menge Cousinen und Vettern. Wir sind überhaupt nicht allein.«
    Dann fuhr sich der kleine Junge mit der Zunge über die Lippen und runzelte die Stirn. »Aber manchmal kommt es mir trotzdem so vor.«
    »Besonders, wenn du so etwas Grausiges siehst wie heute?« fragte Decker.
    »Ach was, das macht mir überhaupt nichts aus«, antwortete Jake tapfer. »Das war irgendwie … spannend.«
    »Imas anderer Bruder, der kein Rabbi ist, sieht andauernd Leichen«, sagte Sammy. »Er ist Pathologe und hat ein paar Friedhöfe … Jedenfalls streiten er und Ima sich ständig deswegen, weil er ein Kohen ist – ein jüdischer Priester –, und Kohanim dürfen eigentlich nicht in die Nähe von Toten kommen.«
    »Dann ist euer Onkel nicht religiös?« fragte Decker.
    Sammy nickte. »Deswegen streiten er und Ima sich auch. Du kannst mir glauben, wir kriegen Onkel Robert nicht oft zu Gesicht.«
    Schweigend brachten sie das nächste Stück Wegstrecke hinter sich. Dann fragte Decker: »Interessierst du dich für Medizin, Sammy?«
    »Igitt, nein«, antwortete der Junge. »Ich kann kein Blut sehen.«
    »Und für Geschäfte? Wie deine Onkel in New York?«
    »Viel zu langweilig«, sagte Sammy. Decker lächelte.
    »Na, ihr habt ja noch reichlich Zeit, euch zu überlegen, was ihr mal werden wollt. Man kann im Leben natürlich auch ganz verschiedene Sachen machen. Als Jugendlicher habe ich in Florida auf einer Ranch ausgeholfen, und als ich auf dem College war, habe ich auf dem Bau gearbeitet. Eine Zeitlang war ich Anwalt, und bei der Polizei werde ich wahrscheinlich auch nicht ewig bleiben. Ihr könnt alles mögliche ausprobieren.«
    Sammy dachte eine Weile darüber nach.
    »Weißt du, was ich werden möchte?« sagte er. »Ich glaube, ich würde gern Journalist werden und Artikel schreiben, die den Leuten etwas zu denken geben.«
    Der Junge war gerade mal achteinhalb.
     
    Die Jeschiwa Ohavei Torah lag auf einem zwanzig Hektar großen, mit Gebüsch und Bäumen bestandenen Grundstück in der kleinen Gemeinde Deep Canyon. Bis zum Polizeirevier waren es auf dem Freeway zwanzig Minuten, bis zu Deckers Ranch fünfzehn. Obwohl es zwischen der alteingesessenen Bevölkerung von Deep Canyon, die hauptsächlich der weißen Arbeiterschicht angehörte, und den jüdischen Zuwanderern kaum Berührungspunkte gab, hatte sich mit den Jahren auf beiden Seiten so etwas wie vorsichtige Toleranz ausgebildet.
    Die Einheimischen waren nicht die einzigen, denen die jüdische Gemeinde unheimlich war. Auch den Polizeibeamten in Foothill Division war die Enklave, die für sie so etwas wie ein Stück altes Osteuropa darstellte, das in einer Zeitschlaufe gefangen war, nicht ganz geheuer. Dabei verkörperte die Jeschiwa nicht nur Aspekte der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart, aber so genau wollten es die Polizisten gar nicht wissen. Bei ihnen hieß die Jeschiwa »die Judenstadt«, und bevor Decker persönlich mit der Talmudhochschule in Kontakt gekommen war, hatte er sie ebenfalls so genannt. Mittlerweile benutzten die Kollegen, zumindest wenn er in der Nähe war, nur noch die korrekte Bezeichnung dafür.
    Das Grundstück für die Jeschiwa war aus dem Berg herausgeschnitten worden. Riesige Felsblöcke wurden weggeschleppt und der Boden eingeebnet, bis inmitten von dichtem Laubwerk und immergrünen Pflanzen eine flache, von Hügeln eingefaßte Fläche entstanden war. In der Mitte eines großen Rasenteppichs stand das Haupthaus, ein einstöckiger Betonwürfel, in dem die meisten Unterrichtsräume untergebracht waren. Daran schlossen sich auf der einen Seite kleinere Gebäude an – zusätzliche Klassenzimmer, die Bibliothek, die Synagoge und das rituelle Reinigungsbadehaus. Auf der anderen Seite lagen hinter einer dreihundert Meter breiten unbebauten Fläche die Wohnquartiere – das Studentenwohnheim und eine Handvoll Fertigbau-Bungalows.
    Die meisten Bewohner der Jeschiwa waren junge Männer im Collegealter, die mit religiösen Studien beschäftigt waren, aber zu dem Komplex gehörte auch eine High-School mit säkularem sowie jüdischem Lehrplan und eine Grundschule für die Kinder der Kolel-Schüler – verheiratete Männer, die ganztägig den Talmud studierten. Den Kolel-Familien, den zwei Dutzend Rabbinern, die als Lehrkräfte beschäftigt waren, sowie dem Leiter der Hochschule –
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