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Das Hohelied des Todes

Das Hohelied des Todes

Titel: Das Hohelied des Todes
Autoren: Faye Kellerman
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nicht beeindrucken. Obwohl er behauptete, daß es ihm Spaß mache, hätte er sich überall sonst genauso wohl gefühlt, solange ihm nur Deckers ungeteilte Aufmerksamkeit sicher war. Was konnte der Junge reden! Wenn Jacob, sein jüngerer Bruder, eingeschlafen war, schüttete Sammy Decker sein Herz aus und redete manchmal bis in die frühen Morgenstunden mit ihm. Er war ein sehr reifes Kind für sein Alter, kein Wunder eigentlich bei einem Erstgeborenen, der den Mann im Haus ersetzen wollte.
    Jacob war anders, ein stets optimistischer und begeisterungsfähiger Junge, der sogar einer Marmorplatte ein Lächeln hätte entlocken können. Auch konnte er sich gut mit sich selbst beschäftigen. Im Moment hockte er vor einem Ameisenhaufen und verfolgte gespannt das geschäftige Gewimmel.
    Decker hatte an beiden Jungen seine Freude, aber er wußte, wenn er morgen aus ihrem Leben verschwände, würde Jake schnell über den Verlust hinwegkommen. Sammy war der Verletzlichere von beiden. Und das lag Decker auf der Seele, weil in seiner Beziehung zu ihrer Mutter noch so vieles ungeklärt war. Rina und er liebten sich zwar, konnten sich diese Liebe aber körperlich nicht zeigen. Rinas religiöse Wertvorstellungen verboten ihr Intimitäten außerhalb der Ehe, und an eine Heirat war momentan noch nicht zu denken. Bis Decker offiziell übergetreten war, hing alles in der Schwebe. Dabei hätte es einen einfachen Ausweg gegeben. Er hätte Rina bloß zu sagen brauchen, daß er adoptiert und das leibliche Kind jüdischer Eltern war, so daß es für ihn strenggenommen keinen Grund gab, zum jüdischen Glauben überzutreten. Doch das war für ihn keine akzeptable Lösung. Zu unehrlich. Er war das Produkt seiner wahren Eltern – des Mannes und der Frau, die ihn großgezogen hatten. Und sie hatten ihn nun einmal zum Baptisten erzogen. Außerdem hatte Rina einen gläubigen Juden als Ehemann verdient und keinen, der seine Religionszugehörigkeit lediglich dem Zufall zu verdanken hatte. Alles andere hätte sie nur unglücklich gemacht. Decker wußte, daß er aus sich heraus zum orthodoxen Glauben finden mußte.
    Er atmete tief durch und sog die kräftige, frische Luft ein. Immerhin machte er langsam Fortschritte. In den wöchentlichen Sitzungen bei Rabbi Schulman erwies er sich als gelehriger Schüler. Bis jetzt fiel es ihm nicht schwer, den Geist und die Gesetze des jüdischen Glaubens zu begreifen. Aber das Hebräische stellte noch immer eine schwere Hürde dar. Die Jungen spielten gern den Lehrer für ihn, sie brachten ihm mit ihren Erstkläßlerfibeln das Alef-Bejs bei und verbesserten seine Aussprache und Schrift. Sie kicherten, wenn er einen Fehler machte, und überschütteten ihn mit Lob, wenn er die richtige Antwort geben konnte. Für sie war es ein Spiel, es stärkte ihr Selbstvertrauen, einen Erwachsenen zu unterrichten, und obwohl er sich diese Nachhilfestunden gutmütig gefallen ließ, fühlte er sich trotzdem erniedrigt. Wenn er hinterher nach Hause kam, reagierte er seine Frustration an den Pferden ab, er preschte über die Weiden, bis er ins Schwitzen kam, bis er wieder wie ein Mann roch und sich nicht mehr wie ein Kind fühlte.
    Ächzend legte er sich wieder auf den Rücken. Du hast Urlaub, ermahnte er sich. Genieß die Ferien und vergiß deine Verpflichtungen. Nicht an die Arbeit zu denken, war einfach, aber das ungeklärte Verhältnis zu Rina – und zum Judentum – ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Für Decker, der das Leben mit den Augen eines Polizisten sah, war es nicht leicht, zum Glauben zu finden. Als es ihm in der Sonne zu heiß wurde, suchte er Schutz unter einer Douglasfichte. Er schloß die Augen und versuchte, sich auf angenehmere Bilder zu konzentrieren. Er sah seine Tochter Cindy, wie sie als kleines Mädchen ausgelassen lachend auf der Schaukel mit den Beinen strampelte, er sah sich selbst als Jungen, mit Freunden auf der Alligatorjagd in den Everglades, er stellte sich Rinas Berührung vor, ihren süßen Atem … Die Lider wurden ihm schwer. Mitten in einem verworrenen Traum hatte er das Gefühl, als regnete es ihm auf die Hose. Er fuhr erschrocken hoch und sah Jacob vor sich stehen, der ihm stillvergnügt Erde auf die Beine rieseln ließ.
    »Wozu soll das denn gut sein?« fragte er und klopfte sich die Hose ab.
    Der Junge zuckte mit den Schultern.
    »Langweilig?«
    »Ein bißchen.«
    »Hunger?«
    »Ein bißchen.«
    Decker zauste Jacob die ebenholzschwarzen Haare, die unter der Jarmulke hervorlugten, und machte
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