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Das Hohelied des Todes

Das Hohelied des Todes

Titel: Das Hohelied des Todes
Autoren: Faye Kellerman
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Ktubba beschreibt die besonderen Pflichten von Mann und Frau. Du darfst nicht vergessen, daß damals in den meisten Gesellschaften Frauen als Sachen angesehen wurden – als Objekte. Die Vorstellung, daß ein Mann seiner Frau gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet ist, war revolutionär.
    Die östliche Wand war eine einzige Familiengalerie – Schnappschüsse von Rinas Eltern und Brüdern mit Familien, Bilder von ihren Söhnen als Babys und als tapsige Kleinkinder in dicken Windeln, alte Sepiaaufnahmen ihrer Großeltern und Urgroßeltern in vergoldeten Rahmen. Und dann die Hochzeitsfotos – Rina und Yitzchak, die unter einem Baldachin gemeinsam ein Weinglas hielten. Der Bräutigam sah den Rabbiner ernst und aufmerksam an. Ein attraktiver junger Mann, fand Decker – der schlanke Körper, die ebenmäßigen, markanten Gesichtszüge. Aber Rina war der eigentliche Blickfang des Fotos – eine hinreißende junge Frau mit saphirblauen Augen und schimmerndem, ebenholzschwarzem Haar, das ihr bis auf die Hüften fiel. Sie war eine atemberaubend schöne Braut. Jedes Mal, wenn Decker das Foto ansah, verspürte er einen Stich in der Brust.
    Sein Blick wanderte von den Bildern zu den vollgestopften Bücherregalen hinüber. Rina besaß zwar auch einige weltliche Bücher, in der Hauptsache aber religiöse Werke. Hebräische und aramäische Gebetbücher, Schriften über Recht und Ethik stapelten sich doppelt und dreifach auf den Brettern. Sie selbst hatte einige davon überflogen, wie sie ihm erzählt hatte, aber Yitzchak hatte sie alle auswendig gekannt.
    Rina kam zurück. Sie gab Decker eine Tasse schwarzen Kaffee, sie selbst nahm einen Schuß Milch. Sie setzte sich hin, schlug die Beine übereinander und strich sich die Haare aus den Augen. »Also«, sagte sie. »Was ist passiert?«
    »Es war so«, begann er. »Sammy hat einen Streifzug durch den Wald gemacht, und dabei hat er zwei menschliche Skelette gefunden …«
    »Was?«
    »Das war natürlich ein ziemlicher Schock für ihn. Jake hat sich auch erschreckt, aber mittlerweile haben sie sich schon wieder ein bißchen gefangen«, sagte er.
    »Wie haben sie reagiert?«
    »Sie haben mir Fragen gestellt, die ich ihnen, so gut es ging, beantwortet habe. Bei Kindern kommt man mit Ehrlichkeit am weitesten.«
    »War es ein schlimmer Anblick?«
    »Grauenhaft.«
    »Was haben sie dich gefragt, Peter?«
    »Eigentlich haben sie ziemlich typisch reagiert. Jake wollte alles über die Leichen wissen. Wie sie wohl da hingekommen sind? Ob der Mann, der sie da versteckt hat, wohl noch in der Stadt ist? Ob er uns auch umbringen will …«
    »Um Gottes willen, ich muß sofort mit ihm reden …«
    Decker hob die Hand und fuhr fort.
    »Es hat ihm gutgetan, daß er der Polizei bei der Arbeit zusehen konnte. Das hat ihm irgendwie Mut gemacht. Er hat es sich weniger zu Herzen genommen als Sammy.«
    »Was hat Sammy gesagt?«
    »Sammy ist erwachsener an die Sache herangegangen. Er hat über den Tod gesprochen – wie die Rabbiner damit umgehen. Ich glaube, es war eine Rede, die er von früher kannte. Vermutlich hat dieser Fund ein paar schmerzliche Erinnerungen geweckt.«
    »Hat er Yitzchak erwähnt?«
    »Nicht direkt. Aber er hat mir erzählt, daß Juden in luftdurchlässigen Särgen begraben werden, damit ihre Knochen langsam zu Staub zerfallen können. Man brauchte nur zwischen den Zeilen zu lesen, dann wußte man, was ihm durch den Kopf ging.«
    Einen Augenblick lang blieb es still im Zimmer.
    »Ich muß nach ihnen sehen«, sagte sie dann leise.
    Decker nickte. Sie ging hinaus, und er nippte langsam an seinem Kaffee.
    Es war jetzt sechs Monate her, daß er den Jeschiwa-Komplex zum erstenmal betreten hatte, diese fremde Welt, die nach dreizehnhundert Jahre alten Gesetzen lebte. Er hatte einen Fall zu bearbeiten, eine brutale Vergewaltigung vor der Mikwe – dem Ritualbad. Rina war eine Zeugin gewesen. Im Zuge der Ermittlungen hatte sich herausgestellt, daß der Täter es eigentlich auf sie abgesehen hatte. Als der Täter schließlich gefaßt wurde, hatten sich ihre Lebensfäden längst dauerhaft miteinander verwoben.
    Und nun das endlose Warten. Die langen Stunden des Lernens, die ihn, wie er hoffte, irgendwann zu einer inneren Überzeugung führen würden. Aber er fragte sich oft, ob er dieses religiöse Leben auch wirklich wollte. Wäre Rina nicht in sein Leben getreten, hätte er sich nie geändert. Doch nun war sie da, und er hatte das Gefühl, zwischen zwei Etagen in einem steckengebliebenen
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