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Das Hexenbuch von Salem

Das Hexenbuch von Salem

Titel: Das Hexenbuch von Salem
Autoren: Katherine Howe
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zerrissenen Saum provisorisch abgeklebt hatte, der klebrige Geschmack von gezuckertem Kaffee in ihrem Mund. Einen Moment lang ließ sie sich von diesen Kleinigkeiten ablenken, dann schob sie sie energisch beiseite. Nur die Angst blieb, offenbar nicht gewillt, zu weichen. Sie richtete ihre Augen auf Chilton und wartete.
    In dem schmucklosen Raum befand sich kaum mehr als der schartige Konferenztisch samt Stühlen und direkt dahinter eine große Tafel, auf der Jahrzehnte verwischter Kreide eine blassgraue Farbe hinterlassen hatten. Hinter ihr hing das Porträt eines alten Mannes mit weißem Schnurrbart, geschwärzt durch Jahrhunderte der Vergessenheit. Ganz hinten schottete ein rußgeschwärztes Fenster den Raum gegen den spätnachmittäglichen Sonnenschein ab. Fast reglos hingen Staubflusen in dem einzigen Sonnenstrahl, der den Raum erhellte und die Gesichter der Mitglieder des Prüfungskomitees
von Nase bis Kinn beleuchtete. Von draußen hörte sie junge Stimmen, Studenten aus einem unteren Semester, die einander etwas zuriefen und sich lachend entfernten.
    »Miss Goodwin«, sagte Chilton. »Heute Nachmittag haben wir noch eine letzte Frage für Sie.« Ihr Doktorvater beugte sich in das leere Zentrum des Tisches vor, Sonnenlicht streifte sein silbergraues Haar und wirbelte den Staub zu einer glitzernden Korona auf, die sich um seinen Kopf legte. Auf dem Tisch vor ihm waren seine Finger ebenso sorgfältig verschlungen wie der Knoten der Klubkrawatte um seinen Hals. »Würden Sie dem Prüfungsgremium bitte einen kurzen und prägnanten geschichtlichen Abriss der Hexerei in Nordamerika geben?«
     
    Als Historikerin mit Schwerpunkt »Alltagsleben im Amerika der Kolonialzeit« musste Connie in der Lage sein, längst vergangene gesellschaftliche, religiöse und wirtschaftliche Systeme bis ins geringste Detail zu beschreiben. In Vorbereitung auf diese Prüfung hatte sie sich – unter anderem – eingehend mit den Methoden zum Pökeln von Schweinefleisch, der Nutzung von Fledermauskot zu Düngezwecken sowie den handelsmäßigen Verflechtungen von Molasse und Rum beschäftigt. Ihre Zimmergenossin Liz Dowers, eine große, bebrillte Studentin mittelalterlichen Lateins, blond und schlank, hatte ihr einmal über die Schulter geschaut, wie sie die Bibelverse studierte, die im achtzehnten Jahrhundert für Stickmustertücher verwendet wurden. »Jetzt haben wir uns endgültig so spezialisiert, dass wir einander nicht mehr verstehen können«, hatte Liz bemerkt und dabei den Kopf geschüttelt.
    Mit dieser letzten Frage, das wusste Connie, hatte ihr Chilton im Grunde ein Geschenk gemacht. Einige der früheren Fragen waren wesentlich fieser gewesen und hatten
darin sogar das übertroffen, womit sie gerechnet hatte. Ob sie bitte die verschiedenen Hauptexportgüter der britischen Kolonien in den Vierzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts beschreiben könne, und zwar von der Karibik bis nach Irland? Ob nach ihrem Dafürhalten Geschichte mehr von bedeutenden Persönlichkeiten geprägt sei, die unter außergewöhnlichen Umständen handelten, oder von großen Bevölkerungsgruppen, die in wirtschaftliche Systeme gezwängt würden? Und was glaube sie, welche Rolle der Kabeljau für die Entwicklung von Handel und Gesellschaft in Neuengland gespielt habe? Während sie den Blick langsam von einem Professor zum nächsten schweifen ließ, sah sie in deren erwartungsvollen Augen jeweils genau das besondere Fachwissen gespiegelt, mit dem er oder sie sich einen Namen gemacht hatte.
    Connies Doktorvater, Professor Manning Chilton, schaute sie über den Tisch hinweg an. Ein kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Sein Gesicht, von einem Kranz sorgfältig gebürsteten, watteweißen Haares umgeben, war runzlig auf der Stirn, und auch zwischen den Nasenflügeln und dem Kiefer hatten sich Falten gebildet, die im Licht der tief stehenden Sonne im Konferenzsaal dunkle Schatten bildeten. Aus seiner Körperhaltung sprach die lässige Selbstgewissheit einer aussterbenden Spezies von Akademiker – eines Mannes, der seine gesamte Karriere beschirmt vom purpurroten Wappen Harvards verbracht hatte und dessen Spezialisierung auf die Wissenschaftsgeschichte der Kolonialzeit bereits in einer Kindheit vorgeprägt worden war, in der man ihn permanent aus dem Wohnzimmer eines herrschaftlichen Stadthauses in Back Bay verscheucht und sich selbst überlassen hatte. Ihn umwehte das deutliche Aroma von altem Leder und Pfeifentabak, ein männlicher, jedoch noch nicht
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