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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
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Gesellschaft, bestellte Bier und Rührei und gab fünf bis zehn Dollar aus. Aber das kam nur selten vor. Die meisten Gäste kamen allein, verzehrten wenig und blieben lange. In manchen Nächten kam zwischen zwölf und fünf Uhr überhaupt kein Gast. Verdienen tat er daran nichts – das lag auf der Hand.
    Aber solange er das Lokal führte, würde er nachts nie schließen. Die Nacht war seine Zeit. Da kamen Gäste, die er sonst nie zu Gesicht bekommen würde. Einige waren regelmäßig mehrmals die Woche da. Andere hatten das Lokal nur einmal besucht, hatten Coca-Cola getrunken und waren nie wieder gekommen.
    Biff verschränkte die Arme über der Brust und ging langsamer. Unter der Laterne tauchte schwarz und eckig sein Schatten auf. Er fühlte die friedliche Stille der Nacht in sich einströmen. Dies waren die Stunden der Ruhe und der Besinnung. Ging er vielleicht deshalb nicht schlafen? Blieb er deshalb unten im Lokal? Er blickte noch einmal aufmerksam die leere Straße entlang, dann ging er hinein.
    Die Stimme im Radio redete immer noch von der Krise. Die Ventilatoren an der Decke surrten beruhigend. Louis schnarchte in der Küche. Plötzlich musste er an den armen Willie denken, und er beschloss, ihm bald einmal eine Flasche Whisky zu schicken. Er wandte sich dem Kreuzworträtsel in der Zeitung zu. In der Mitte war das Bild einer Frau abgebildet, das man bestimmen sollte. Er erkannte es und schrieb in die erste freie Zeile: ›Mona Lisa‹. Nummer eins senkrecht war ein anderes Wort für Hauptstadt, fing mit M an und hatte neun Buchstaben. Metropole. Nummer zwei waagerecht: ein anderes Wort für Verdienst. Neun Buchstaben, der erste ein E. Einnahmen? Nein. Er probierte laut mehrere Buchstabenverbindungen. Richtig: Einkommen. Aber er hatte das Interesse daran verloren. Es gab ohnehin genug Rätsel im Leben. Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie fort. Er würde später darauf zurückkommen.
    Er untersuchte die seltsame Zinnie, die er aufbewahren wollte. Wie er sie so ans Licht hielt, war die Blume doch kein sonderlich interessantes Exemplar. Nicht des Aufhebens wert. Er zupfte die weichen, bunten Blütenblätter ab: Das letzte traf auf ›liebt mich‹. Aber wer? Und wen sollte er jetzt lieben? Niemand Bestimmten. Jeden anständigen Gast von der Straße, der eine Stunde hier saß und ein Gläschen trank. Aber niemand Bestimmten. Er hatte diese und jene Liebe gekannt, das war nun vorbei. Alice. Madeline und Gyp. Aus und vorbei. Im Guten oder im Bösen. Je nachdem, wie man’s nahm.
    Und Mick. Mick, die in den letzten Monaten ein so seltsames Leben in seinem Herzen geführt hatte. War auch diese Liebe vorbei? Ja. Sie war zu Ende. Mick kam abends oft vorbei, um etwas Kaltes zu trinken oder ein Eis zu essen. Sie war älter geworden. Von ihrer spröden Kindlichkeit war fast nichts mehr zu spüren. Dafür hatte sie jetzt so etwas Elegantes, Damenhaftes an sich – man konnte nicht sagen, woran es lag: an den Ohrringen, an den klimpernden Armbändern oder an der Art, wie sie neuerdings die Beine überschlug und den Rocksaum über die Knie zog. Wenn er sie beobachtete, empfand er nur noch eine Art gütiger Zuneigung für sie. Seine früheren Gefühle waren verschwunden. Ein Jahr lang hatte diese Liebe seltsame Blüten getrieben. Wohl hundertmal hatte er darüber nachgegrübelt und nie eine Antwort gefunden. Nun war sie vergangen – wie eine Sommerblume im September verblüht. Nein, da war niemand mehr.
    Biff klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Nase. Aus dem Radio kam jetzt eine ausländische Stimme. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es Deutsch, Französisch oder Spanisch war. Aber es klang nach Tod und Verderben. Beim Zuhören lief es ihm kalt den Rücken runter. Er drehte es ab, und plötzlich herrschte tiefe Stille. Er spürte die Nacht draußen. Die Einsamkeit packte ihn so, dass sein Atem schneller ging. Es war viel zu spät, um Lucile anzurufen und mit Baby zu plaudern. Auch Gäste würden kaum noch zu dieser Stunde kommen. Er ging zur Tür und blickte die Straße hinauf und hinunter. Leer und dunkel war alles.
    »Louis!«, rief er. »Bist du wach, Louis?«
    Keine Antwort. Auf die Theke gelehnt, stützte er den Kopf in die Hände. Er drehte sein dunkles Kinn hin und her und senkte langsam die gerunzelte Stirn.
    Das Rätsel. Diese Frage, die sich in ihm festgesetzt hatte und die ihm keine Ruhe ließ. Das Rätsel um Singer und um die anderen. Vor mehr als einem Jahr hatte es angefangen. Über ein Jahr
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