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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Welt voller Mondschein. Dieser große Mann braucht nicht gegen Tränen anzukämpfen, er ist einfach nur da. Stimmen dringen von draußen herein, Männerstimmen. Sicher von den Männern, die losgegangen sind, um nach Hjalti zu suchen, ein drittes Mal, sagt der Junge, nachdem er eine Weile gelauscht hat, um vielleicht etwas zu verstehen.
    Ich weiß, sagt Jens.
    Wir haben das Haus hier erreicht und die Leute geweckt, die schon schliefen, und den Übrigen haben wir einen ordentlichen Schrecken eingejagt.
    Jens schweigt.
    Es war knapp, sagt der Junge, ganz leise.
    Ja, bestätigt Jens und lehnt sich wieder an den Fensterrahmen, um das Gewicht zu verlagern und allein stehen zu können, mit eigenen Muskeln und Knochen und mit den Erinnerungen, Enttäuschungen und Überlegungen, was ihm vielleicht noch bevorstehen mag. Sie hören leichte Schritte kommen, sehen sich kurz in die Augen, und Steinunn tritt ein, stockt einen Moment, als sie den groß gewachsenen Mann am Fenster sieht.
    Du bist ja nicht nur aufgewacht, sondern auch gleich aufgestanden, sagt sie mit dieser Stimme, die so weich ist wie warmes Wasser.
    Jens sieht zu ihr hin. Weiß nicht, sagt er ein wenig mürrisch und hinkt dann zum Bett zurück. Ihr habt niemanden gefunden, sagt er, als er wieder im Bett sitzt, er sagt es ganz ruhig, unterdrückt den Schmerz, die Erschöpfung, die Niederlage, dass er nicht aufrecht gehen und kaum allein stehen kann.
    Nein, sagt sie. Die Sicht war gut, aber es hat viel geschneit, und es lässt sich kaum sagen, was unter dem ganzen Schnee liegt.
    Der Junge blickt vom einen zum anderen. Steinunn redet jetzt anders, so, als würde sie ihre Worte genau abwägen. Wir sind nicht immer gleich, die Anwesenheit anderer verändert uns, zieht jeweils andere Register in uns und nur höchst selten alle auf einmal, in jedem Menschen gibt es verborgene Welten, und manche von ihnen kommen nie zum Vorschein.
    Er wird kaum nach Nes zurückgelaufen sein, meint Jens.
    Wir wollen das Beste hoffen, sagt sie und sieht weder Jens noch den Jungen an.
    Hoffnung ist eine gute Sache, stimmt Jens zu, aber einem völlig erledigten Mann in einem Sturm hilft sie wenig.
    Das weiß ich, guter Mann, sagt die Frau und schaut Jens an, der den Blick senkt, als wäre sein Kopf auf einmal unerträglich schwer geworden.
    Jens bekommt Grütze und Innereien vorgesetzt und frischen Kaffee.
    Wie sieht es mit den Erfrierungen aus?, fragt er Ólafur, der gleich nach Þórdís eingetreten ist. Nun stehen alle drei Hausbewohner da und sehen Jens an, was den nicht im Geringsten zu beeindrucken scheint.
    Hässlich, antwortet Ólafur.
    Erfrierungen sind nie schön, sagt Jens mit belegter Stimme.
    Ich weiß, ich weiß, sagt der Arzt.
    Heilt das wieder?
    Ich habe schon schwärzere Stellen gesehen.
    Dazu sagt Jens nichts, sieht dem Arzt aber fest in die Augen. Ólafur schlägt den Blick nieder und zuckt mit den Schultern. Heilen! Was heilt schon wirklich? Ein Mann bekommt einen Schlag ins Gesicht, das Gesicht vergisst den Schlag vielleicht, der Mann nicht.
    Jens fängt an zu essen, als könne er dem Arzt nicht länger in die Augen sehen.
    Er hat dich wohl kaum um philosophische Weitschweifigkeiten gebeten, wirft Steinunn ein, sondern um eine klare Aussage, ob er all seine Gliedmaßen ohne Schäden behalten wird.
    Da hast du recht, sagt Ólafur und räuspert sich. Die Aussichten stehen nicht ganz schlecht, dass du alle Glieder behalten kannst. Mehr als nicht ganz schlecht aber nicht. Bei einigen Zehen bin ich mir noch nicht sicher, vielleicht ein, zwei Finger, das könnte davon abhängen, was für ein Patient du bist. Es gibt so vieles, was man nicht vorhersagen kann.
    Gegen Erfrierungen hilft immer noch am besten, zweimal täglich durch Schnee zu laufen, wirft Þórdís ein. Das war noch immer das beste Heilmittel. Von Weichlichkeit wird keiner stark.
    Und trotzdem bist du stark, sagt der Junge.
    Dem bringe ich kein Essen mehr, sagt Þórdís und bohrt ihre hellblauen Augen in den Jungen.
    Steinunn murmelt nur etwas und tritt ans Fenster, um nach draußen zu blicken.
    Hjalti hatte etwas Besseres verdient, sagt der Junge, als sie wieder allein sind und der Himmel draußen vor dem Fenster den Mond hält wie eine matte Lampe.
    Ja, sagt Jens, sonst nichts, doch dieses eine Wort, das zuweilen nicht einmal ein Wort, sondern eher eine Art Seufzer oder noch weniger, nur ein Atemzug ist, kommt auf eine solche Weise aus Jens heraus, dass der Junge erst eine Weile seine ganze Kraft aufwenden muss,
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