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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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vergessen wir nicht, dass es stolze Frauen auf der ganzen Welt gibt, allein in China muss es eine Unmenge solcher Frauen geben – vielleicht einige Millionen, was kommt es da auf ein mageres Hausmädchen in abgetragenen Kleidern im Obergeschoss eines Hauses an, das am äußersten Rand der Welt balanciert; wenn die Welt niest, fallen sie sowieso alle runter. Er lehnt sich an den Fensterrahmen, verschränkt die Arme und wünscht sich von hier weg. Der Arzt macht einen Hausbesuch, kommt am Abend oder in der Nacht nach Hause und sagt, Jens solle sich ausruhen.
    Ist gut, meint Jens und setzt noch etwas hinzu, kann auf einmal reden, ja, vielleicht lächelt er Álfheiður sogar an.
    Ist mit dir alles in Ordnung?, fragt sie und meint den Jungen, der ganz ruhig ein Jaja zurückgibt. Warum aber hat er die Arme nicht mehr verschränkt, und was soll er jetzt mit ihnen anfangen? Er kann sie doch nicht einfach so dämlich an den Seiten hängen lassen, so unbeholfen und schwerfällig wie jetzt gerade. Sollte er nicht besser das Fenster aufmachen und sie rauswerfen?
    Das Fenster lässt sich nicht öffnen, es ist festgefroren, sagt sie, als der Junge wütend daran rüttelt und etwas von schlechter Luft brummt. Es sei denn, du schlägst die Scheibe ein, meint sie lächelnd.
    Schnell blickt er zu ihr hinüber. Sie scheint einigermaßen gesunde Zähne zu haben, einige stehen nur schief wie müde Menschen, die sich Halt suchend aneinanderlehnen. Er steckt die Hände unter die Achselhöhlen, und solange er sie da hält, tun sie nichts Dummes.
    Es gibt Menschen überall auf der ganzen Welt, sagt er, besonders in Russland und in China, und mancherorts wachsen Bäume.
    Jens liegt, sie steht, aber beide gucken ihn an, nichts weiter, und darum setzt er noch hinzu: In China bauen sie Tee an … Und in den Bergen regnet es manchmal … auch auf die Mäuse … und auf die Hände der Menschen … Ist aber nicht schlimm, wenn du in China bist, denn da ist der Regen manchmal warm.

VII
    Es fühlt sich seltsam an, in ruhiges, klares Wetter hinauszugehen, aus dem Haus zu treten, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben; verständlich, dass es gar nicht so einfach ist, in dieser Windstille das Gleichgewicht zu halten. Er folgt einem Weg, der an Schneewehen vorbei zu den nächsten Häusern führt. Der Junge sieht sich um und ist am Leben. Die Ortschaft besteht aus vierzig bis fünfzig Häusern, verstreut in einem großen Kreis, auf einem flachen Hügel in seiner Mitte thront die Kirche. Das Haus des Arztes steht oberhalb davon nahe der Felswand mit dem steilen Abhang, den er und Jens hinabgesaust sind, und noch weiter oben spaltet die Schlucht die Wand wie eine dunkle, offene Wunde. Zweihundert Meter tief hinab bis zu einer ersten Ansammlung von Gebäuden. Der Junge bleibt stehen, bevor er sie erreicht, dreht sich um und blickt den Berg hinauf. Sechs Tage sind vergangen, seit er aufgebrochen ist, seit er im Beisein von Rektor Gísli und Marta vor dem Hotel Sodom den Kahn ins Wasser geschoben hat? Ist das wirklich erst sechs Tage her? Nicht sechshundert?
    Als er so bewegungslos dasteht, schleicht sich die Kälte an. Vielleicht hätte er das Haus nicht verlassen sollen. Er ist ungesehen nach unten getappt, hat Þórdís’ Stimme gehört, hart wie Stein, dann die weiche Stimme von Steinunn, vielleicht hätte er sich wirklich noch ausruhen, schlafen und Kräfte sammeln sollen, aber Jens ist rasch eingeschlafen, nachdem Álfheiður gegangen war. Ihre Augen, dieses Grün hat sie mitgenommen. Jens hat der Regen in China nicht interessiert, ob Regen überhaupt warm sein kann, und nach den Mäusen hat er auch nicht gefragt. Der Junge hat gelauscht, wie sich Álfheiðurs Schritte entfernten, und danach hat Jens gesagt: Das war meine letzte Tour als Postbote. Darauf gab es ein langes Schweigen, als hätte der Junge die Erklärung nicht gehört oder, was wahrscheinlicher ist, als wäre ihm das egal. Was bedeutet es ihm denn schon, ob Jens mit Post zwischen den Bergen herumläuft oder nur bei sich zu Hause sitzt? Das Leben eines Menschen geht einen anderen nichts an. Jens hat die Augen geschlossen. Jeder trägt die Verantwortung für sein Leben und sollte sie nicht auf andere abwälzen. Wozu hat der Mensch schließlich seine Beine, wenn er nicht allein auf ihnen stehen kann?
    Ist es wegen Salvör?, hat der Junge aus dem Schweigen gefragt, in das er sich zurückgezogen hatte, und Jens ist zusammengezuckt wie nach einem Messerstich.
    Das geht dich nichts an, hat er
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