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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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Kopftuch bedeckt sie fast vollständig, aber bei den Ohren kommen ein paar unter dem Tuch hervor. Sie setzt ihm geräuchertes Geflügel vor und zieht sich zurück, er isst von dem Geflügel und kaut. Rote Haare, grüne Augen, geräuchertes Geflügelfleisch, Hjalti tot, atmet nicht mehr, denkt nicht mehr, fühlt nichts mehr, muss nie wieder pinkeln, spucken, weinen.
    Steinunn legt die Zeitung weg und seufzt. Sicher ist es das zehnte, elfte oder gar zwölfte Mal, dass sie diese Ausgabe liest, Zeitungen werden erst spät und unter viel Mühe zugestellt, der Winter verlangsamt alle Neuigkeiten. Es gibt viele Menschen auf der Welt, sagt sie.
    Ich komme ohne Hilfe nicht wieder nach oben, sagt Jens, als sie allein in der Küche sind.
    Du wärst besser gar nicht nach unten gegangen, sagt der Junge.
    Das habe ich erst mitten auf der Treppe gemerkt.
    Warum bist du nicht umgekehrt?
    Man dreht nicht um, sagt Jens.
    Dann gehen sie zur Treppe, quälen sich die Stufen hinauf; zweimal muss der Junge eine Pause machen, Jens stützt sich schwer auf ihn, keucht und flucht ihm ins Ohr, dann liegt er im Bett, der Junge lehnt sich an den Fensterrahmen und erholt sich von der Anstrengung und der Belastung seiner schmerzenden Beine.
    Er kommt also nicht mehr wieder?, fragt der Junge ins Helle hinein.
    Nein, sagt Jens.
    Vielleicht hat er sich in den Schnee eingegraben, so das Schlimmste überstanden und ist dann zurückgegangen.
    Vielleicht.
    Aber nicht sehr wahrscheinlich?
    Jens antwortet nichts, und der Junge schaut aus dem Fenster, es tut gut, ins Helle zu sehen, dahin sollten wir alle blicken, aber es bringt trotzdem niemanden ins Leben zurück. Sie schweigen gemeinsam. Es gibt vielerlei Arten des Schweigens. Manchmal schweigen Menschen zusammen, weil sich im Leben etwas ereignet hat, das sich mit Worten nicht benennen lässt, etwas, woran Sprache nicht zu rühren vermag, und auf diese Weise schweigen die beiden jetzt. Der eine von ihnen steht, der andere liegt, der Dritte befindet sich draußen und ist tot, ist im Schnee eingeschlafen – er ist das Schweigen. Uns wird so vieles genommen, am Ende alles. Der Tod scheint unser Leben manchmal zu umgeben wie das schwarze Weltall die Erde, diesen blauen Planeten, diesen hellblauen Ruf im unendlich weiten Raum, den Ruf nach Gott, nach Sinn.
    Mir tun die Kinder leid, sagt der Junge und bricht das Schweigen. Die auf Nes, fügt er hinzu.
    Ja.
    Hier kennt niemand eine Bóthildur.
    Nein.
    Vielleicht hat er sich mit dem Namen vertan, ihn nicht richtig behalten.
    Bóthildur. Bei einem solchen Namen vertut man sich doch nicht.
    Was dann?
    Was weiß ich.
    Vielleicht, sagt der Junge sehr zögerlich, hat es sie gar nicht gegeben. Er guckt dabei aus dem Fenster. Jens antwortet nichts, die Scheibe und das Tageslicht schweigen ebenfalls. Ich kannte einmal eine Frau namens Bóthildur, und sie hat mich geküsst. Warum erfinden Menschen solche Lügen? Weil wir anders nicht leben könnten? Oder lügt am Ende die Realität, und der Mensch sagt die Wahrheit?
    Er schaut nicht länger aus dem Fenster, es hat sich draußen auch zugezogen, als wären weitere Niederschläge im Anzug. Jens scheint zu schlafen. Der Junge setzt sich aufs Bett, es wird ihm guttun, von hier wegzukommen, diese endlos lange Reise zwischen Leben und Tod und noch ein Stück darüber hinaus zu beenden, wieder in den Ort zu kommen, in Geirþrúðurs Haus, natürlich wagt er nicht zu denken: nach Hause. Ein Zuhause ist ein viel zu großes Wort, es hat schon viele Menschen in den Stürmen des Lebens gerettet. Wer ein Zuhause hat, gibt nicht so leicht auf.
    Ich will mich nur einen Moment hinlegen, die Augen schließen und an Ragnheiður denken, an die weichen Lippen, wie sie gezittert hat. Er schließt die Augen und reißt sie gleich wieder auf, denn auf einmal ist Álfheiður da und spricht mit Jens, der also gar nicht geschlafen hat, es sei denn, er ist von diesen grünen Augen aufgewacht, was gar nicht so unwahrscheinlich ist, denn wie könnte man in ihrer Gegenwart schlafen? Das hat jetzt aber gar nichts zu sagen, er denkt an Ragnheiður, die zitterte und bei gutem Wetter reiten wollte, besser macht er währenddessen die Augen zu, denn wer die Augen schließt, ist verschwunden.
    Dann steht er aber doch am Fenster, und sie redet noch immer mit Jens, der Arzt hat dies und der Arzt hat jenes. Diese braun gekleidete und blasse Person trägt den Kopf vielleicht ein wenig hoch, ja, schon, und es könnte sein, dass das eine gewisse Wirkung hat. Aber
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