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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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solche Hochflut herrscht wie jetzt, strömt das Wasser in die Höhle.
    Kommt es bis hierher?
    Das kann man nie wissen.
    Du kannst dich retten.
    Vielleicht, aber bei dem Wetter ist das nicht sicher.
    Versuch nicht, mich zu retten. Du darfst deiner Tochter zuliebe nicht sterben. Deiner Tochter und deiner Mutter zuliebe. Schreib Geirþrúður und erzähl ihr, wie alles geendet hat.
    Wann endet alles?, fragt sie und küsst ihn plötzlich, sie küsst ihn, und das ist gut, eigentlich noch viel besser als gut. Sie streicht mit den Fingerspitzen über sein Gesicht, so als sollten sich ihre Finger sein Gesicht einprägen. Dann liegen sie vereint, während das Meer langsam die Höhle füllt, und der Junge denkt an alles, was er erlebt hat, er erinnert sich an alles, es kommt alles in den Minuten zurück, in denen er in ihr ist, alle, die gestorben sind, kommen zu ihm zurück, und alles, was er vermisst hat, und draußen im Meer treibt die Leiche von Kolbeinn, der noch gerufen hat: Verzeih, dieses schöne, wehe Wort, und der dann ertrank, das Gedicht des Lebens und des Todes in der Tasche. Er rief dem Jungen und vielleicht auch dem Leben zu, und das Gleiche tun wir, wir rufen dem Leben zu: Verzeih, wir rufen es dem Himmel zu, dem, den wir nicht verstehen, und die beiden liegen ineinandergeflochten da, und der Junge weint, er kann nichts dagegen tun, die Tränen strömen, und ihre Lippen trinken sie, diese durchsichtigen Fische, diese klaren Perlen, diese glitzernde Perlenkette, an der wir uns emporlesen aus dem Regentief, hinauf zu etwas, das hoffentlich größer ist als alles, wir lesen uns empor und lassen die Worte hoffentlich im Tod zurück.
    Danke, dass du geweint hast, sagt sie.
    Jetzt bin ich bereit zu sterben, sagt er und hört, wie das Meer näher kommt, hört, wie es in das dunkle Innere der Erde gesaugt wird wie der Tod, wie das, was wir nicht begreifen, wie das Unbegreifliche.
    Küss mich noch einmal, sagt sie, dann stoppt die Flut.
    Ja, sagt er und begreift. Ja, denn wo beginnt das Leben und wo wird dem Tod Einhalt geboten, wenn nicht in einem Kuss?
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