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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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seinem massigen Leib, er ist recht beleibt, hat eine Halbglatze, aber mächtige Koteletten, trägt ein Wolljackett samt Weste, die Nase ist auffällig gerötet, die stahlblauen Augen liegen tief in den Höhlen und lassen die Nase noch größer erscheinen.
    Es stimmt also, du bist aufgewacht, stellt er fest. Seine Stimme klingt dunkel, ein bisschen verbraucht oder abgenutzt, und er seufzt müde.
    Gut, dass du dich ausruhen konntest, sagt eine Frau, die an die Seite des Mannes tritt. Sie ist einen Kopf kleiner und bedeutend jünger als er, vielleicht zwanzig Jahre. Sie ist schlank, hat üppiges, blondes Haar und eine so offene Miene, dass der Junge gleich wieder an Sonnenschein, Sommer und helle Juninächte denkt. Ob die noch einmal wiederkommen? Die andere Frau, die so hart ist wie ein Strick, lehnt am Türrahmen und verschränkt die Arme über ihrem üppigen Busen. Na, scheint ihr Augenausdruck zu sagen, da seht ihr’s. Und was jetzt?
    Einige Augenblicke steht der Junge ungeschützt in der Mitte des Zimmers, in der wollenen Wäsche eines anderen, die ihm viel zu groß ist; das Leben scheint sich alle erdenkliche Mühe zu geben, ihn kleinzumachen. Der Mann schiebt den Daumen in den Hosenbund, macht Jaja, und die blonde Frau sagt: Ruh dich aus. Da trottet er zum Bett und legt sich hin.
    Du hilf mal bei der Suppe, sagt sie, ohne den Blick von dem Jungen zu wenden. Die andere Frau öffnet die verschränkten Arme und verschwindet, es sind nur noch ihre Schritte zu hören, die sich entfernen.
    Und du solltest am besten liegen bleiben, sagt die blonde Frau zu dem Jungen, nimmt auf der Bettkante Platz und altert mit dem Näherkommen. Kleine Fältchen wie Spuren von den Krallen der Zeit in ihrem Gesicht.
    Ólafur möchte dich kurz untersuchen, anschließend darfst du uns gern von eurer Wanderung erzählen und von der armen Ásta. Die Leute denken und sprechen kaum von etwas anderem, seit ihr mit einem Knall, wie man wohl sagen darf, hier im Dorf erschienen seid, du und der andere Mann. Sie wirft schnell einen Blick zu Jens hinüber.
    Mich untersuchen?, fragt der Junge und weiß nicht recht, wie er liegen soll.
    Entschuldige, du kennst uns ja gar nicht, sagt die Frau. Das ist Ólafur, der Arzt hier in der Gegend und mein Mann. Sie hebt den einen Arm fast wie einen Flügel in seine Richtung, und der Mann verneigt sich kurz und lächelt, während sein Blick den Jungen forschend durchdringt.
    Ich bin Steinunn, sagt sie und steht auf, um ihrem Mann Platz zu machen. Er setzt sich schwerfällig aufs Bett, stöhnt leise, als würde ihm das aufrechte Stehen schwerfallen, dieses ewige zermürbende Tauziehen, und beginnt dann damit, den Jungen abzutasten. Er stellt ihm knappe, zielgerichtete Fragen.
    Ja, ich kann die Füße bewegen. Nein, die Hände fühlen sich nicht taub an. Ja, ich habe Schmerzen im Hals. Müde? Ja, und schlapp.
    Gut, sagt Steinunn schließlich, und ihr Mann erhebt sich, um ihr wieder den Platz zu überlassen.
    Der Knabe ist so jung, sagt er, der hält noch so gut wie alles aus. Ruhe, ordentliches Essen, Wasser, Kälte meiden – und in einer Woche oder zehn Tagen wird er wieder ganz auf dem Damm sein.
    Du bist so jung, sagt Steinunn.
    Jung sein ist schön, sagt Ólafur, dauernd Veränderungen. An einem Tag ist man so, am nächsten ganz anders. Wir sollten alle jung sein und niemals altern, uns nie von der Zeit ins Bockshorn jagen lassen.
    Du magst doch gar keine Veränderungen, sagt seine Frau und schüttelt leicht den hellen Kopf.
    Ist mit Jens alles in Ordnung?, fragt der Junge leise und kraftlos.
    Jens. Der Lange heißt also Jens, stellt Ólafur fest. Nun ja, er ist übler dran als du, das kann man nicht bestreiten. Er hat Erfrierungen.
    Übler dran?, fragt der Junge zögernd. Er ist also nicht außer Gefahr?
    Außer Gefahr? Wann ist der Mensch je außer Gefahr?, fragt Ólafur. Ich habe getan, was ich konnte, aber er wird sicher hinken. Vielleicht Schlimmeres.
    Schweigen macht sich breit. Als würden sie die letzten Worte überdenken: Vielleicht Schlimmeres. Was bedeutet das, wie schlimm ist Schlimmeres, wie weit ist das Leben vom Tod entfernt?
    Der Junge zögert und fragt dann: Hjalti habt ihr nicht gefunden? Er traut sich endlich zu fragen, denn Menschen leben, solange wir die Frage nicht stellen, Schweigen ist nicht gefährlich; aber wir kommen auf etwas zu sprechen, und schon ist jemand gestorben.
    Hjalti, sagt Ólafur, blickt schnell seine Frau an, dann zum Fenster hinaus. Du hast viel von diesem Hjalti
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