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Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)

Titel: Das Herz des Menschen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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fragt er.
    Woher soll ich das wissen?
    Ich meine, wo?
    Im Haus des Arztes in Sléttueyri. Wo solltet ihr denn sonst sein?
    Das ist nicht die Stimme aus dem Traum. Diese Frau ist kein Traum, sondern eher ein Strick, fest und hart.
    In Sléttueyri, wiederholt er langsam, wie um den Geschmack dieses Namens zu prüfen, zu dem sie zwei Tage und Nächte unterwegs waren, und die Ruhe nach dem Sturm. Er hat es also geschafft. Er und Jens haben es geschafft. Und Hjalti?
    Sie stützt die Hände in die Hüften, ihre Augen stehen eng beieinander, und sie wirkt ungeduldig, vielleicht weiß sie, wie kurz das Leben eines Menschen ist; der Himmel wechselt die Farbe, und schon ist er tot.
    Wir haben es also geschafft, sagt der Junge, als würde er mit sich selbst reden.
    Sieht so aus, sagt die Frau.
    Aber wie sind wir hier hereingekommen und … ins Bett? Ich meine, Jens und ich. Ich erinnere mich an nichts.
    Du erinnerst dich nicht? Dafür hast du aber viel geredet.
    Ich habe geredet?
    Hast angefangen, sobald du ins Warme gekommen bist. Zu verstehen war kaum etwas, und obendrein wolltest du wieder raus in die Kälte, und zwar splitterfasernackt. Wir mussten dich festhalten. Ja, ihr wart nackt. Wir mussten euch doch die steif gefrorenen Sachen ausziehen und euch warm rubbeln.
    Sie ist an die Fenster getreten, zieht mit einer raschen Bewegung die Vorhänge auf, und das Tageslicht strömt herein.
    Wo ist Hjalti?, fragt der Junge, als er sich halbwegs an die Helligkeit gewöhnt hat.
    Hjalti, wiederholt sie auf dem Weg nach draußen. Ich habe keine Ahnung. Dein Gerede hat zehn Männer in die Nacht hinausgejagt, und sie sind nur knapp einer Lawine entgangen.
    Warte, ruft der Junge, als sie ihm den Rücken zudreht.
    Als ob ich dafür Zeit hätte, sagt sie und geht.
    Sie lässt die Tür angelehnt, ihre kurzen, schnellen Schritte entfernen sich, kurz darauf sind leise Stimmen zu hören. Jens atmet so flach, dass man es Stille nennen könnte, als wäre der große Mann endlich mit dem Leben versöhnt. So kann uns der Schlaf täuschen. Wie lange haben sie geschlafen? War es Nacht, als sie auf das Haus stießen? Der Junge steht vorsichtig auf, die Beine tragen ihn, aber sie fühlen sich nicht gut an, sind beträchtlich gealtert, das rechte bestimmt um Jahrzehnte. Draußen ist es einigermaßen hell, es dürfte auf Mittag zugehen, das heißt, er hat mindestens zwölf Stunden geschlafen, kein Wunder, dass er so benommen ist. Es ist bedeckt, weiterer Schneefall scheint aber nicht bevorzustehen, es ist windig und kalt, hier und da lässt der Wind den Schnee aufstieben, wie zum Zeitvertreib, aber in keiner Richtung ist die Sicht verdeckt, da liegt das Meer, bleigrau und schwer, und wälzt sich zwischen den Bergen. Er schaut nach rechts, wo sich der offene Ozean ausbreitet, weniger aufgewühlt in seiner Unendlichkeit. Die Berge sind weiß, zu weit weg, um bedrohlich zu wirken, völlig weiß, bis auf einige Felsgürtel, die pechschwarz sind wie Tore zur Hölle. Er fährt sich leicht mit der Fingerspitze über die Lippen, als wollte er einem Kuss nachspüren. War das nur ein Traum, der Kuss, die Stimme, die roten Haare, die Wärme?
    Es ist kalt am Fenster. Frost und Schnee hauchen durch die dünne Scheibe. Er sieht ein paar schneeverklebte Gebäude, kalte Gehäuse, die Leben enthalten. Er beugt sich vor, und da kommt die Kirche ins Blickfeld. Ob Ásta da drin liegt und darauf wartet, endlich unter die Erde zu kommen? Und wo mag Hjalti sein? Der Junge späht nach draußen, als hoffe er, Hjalti zwischen den verschneiten Häusern herumhuschen zu sehen, vielleicht auf der Suche nach Bóthildur.
    Das Leben dreht sich darum, einen anderen Menschen zu finden, mit dem man zusammenleben möchte, und anschließend diesen Fund zu überleben, heißt es in einem berühmten Buch, und das hört sich geistreich an, aber es greift zu kurz, denn es muss doch viel schwerer sein, allein zu leben als mit einem anderen Menschen. Wir kommen allein zur Welt, und wir sterben allein, da wäre es schrecklich, auch noch allein zu leben.
    Der Junge versucht an Ragnheiður zu denken, die Tochter von Friðrik, der Tryggvis Handelsniederlassung führt. Sie wollte im Sonnenschein ausreiten. In diesem Moment kommt jemand mit schweren Schritten die Treppe herauf. Der Junge will schnell ins Bett zurück, unter den Schutz der Decke, bleibt aber stehen, will wieder zum Fenster, hält doch wieder inne und steht mitten im Zimmer, als ein Mann mittleren Alters eintritt. Die Dielen knarren unter
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