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Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Männer legte sich der zynische Abwehrausdruck. Ite-ska-wih fühlte eher eine Möglichkeit, sich verständlich zu machen. Sie fixierte den Doc, der von ihrem Blick festgehalten wurde. »Wovon hängt es ab, Doc, ob ein Volk eine Chance hat?«
    »Ich denke, Missis Mara, von tausend Umständen; aber vor allem davon, ob es selbst die Chance sucht und wahrnimmt.«
    »So, wie wir hier sitzen, Doc – wir suchen sie alle. Auch unsere Kinder. Nicht wahr, Mary Wable-luta-win?«
    »Ja, Ite-ska-wih.«
    »So, wie wir hier sitzen« – mochten der Doc, seine Frau und seine Kinder in Gedanken wiederholen. Da saßen zwei auffallend große, kräftige junge Männer, die mit jungen Stieren und widersetzlichen Hengsten fertig wurden, sich zudem Gedanken machten und stolz waren, neben ihnen ein krank aussehender junger Mensch mit einem von Leiden, Fühlen und Denken geformten Gesicht – eine sehr junge reizvoll zuversichtliche und intelligente werdende Mutter – und fünf Kinder von wohlerzogener Haltung.
    »Nun, die tausend Umstände«, fragte Ite-ska-wih währenddessen den Doc, »müssen sie alle günstig sein oder nur einige wichtige?«
    »Haben Sie studiert?«
    »Nein, Doc. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich bin in Chicago in eine armselige Schule gegangen. Dann habe ich auf der Reservation auf die Männer meines Stammes gehört.«
    »Bemerkenswert. Ein Autodidakt sind Sie. Was halten Sie selbst für wichtig?«
    »Unsere Erde in unserem Besitz haben, lieben und pflegen. Wissen, wofür man lebt. Bruder und Schwester sein. Sich Zeit nehmen, um nachzudenken. Nicht nur nach dem Profit jagen.«
    »Damit wollen Sie zum Erfolg kommen?«
    »Dad!« Francis war ärgerlich. »So höre doch mal auf Leute, die sich nicht schinden wollen für Profit und Erfolg. Ich werde da auch nicht mitmachen, jetzt nicht und künftig nicht.«
    »Über das ›künftig‹ reden wir in zehn Jahren, Francis. Was soll aus unserer Welt ohne Erfolg werden, meine Liebe?«
    »Eine bessere Welt, weil sie den Erfolg der Humanität haben wird. So denken auch meine Navajo-Studentenkollegen.«
    »Da hören Sie, Mara, wie weit solche Ideen schon gedrungen sind. Ich glaube aber immer noch, daß die Leistung entscheidet.«
    »Wie Rufus Myer«, sagte Hanska.
    »Wer ist das?«
    »Ein Mißerfolgs-Rancher, der an den Erfolg glaubt. Wir arbeiten mit ihm zusammen.«
    »Weiß und Rot zusammen?«
    »In diesem Falle ja.«
    »Sie müssen doch endlich heraus aus den Reservationen! Da ist Stickluft.«
    »Sie haben uns ja darin eingesperrt.«
    »Und jetzt?«
    »Können wir gehen. Aber wir wollen nicht.«
    »Ein bedeutender Fehler.«
    »Natürlich, weil wir auf Uran, Öl und Kohle sitzen. Das merken Sie jetzt erst.«
    »Und darum werden Sie jetzt die volle Freiheit erhalten.«
    »Die vollständige Zerstreuung, Verelendung, Vernichtung als Volk. Wenn es nach den Weißen geht.«
    »Was heißt ›als Volk‹? Sie sind Glieder der amerikanischen Nation so wie auch ich.«
    »O nein, Doc Raymund«, warf Wakiya ein.
    »Aber warum denn nicht?! Doch nur, weil Sie nicht wollen.«
    »Sie sind ein egoistisches Volk und wünschen, uns zu Egoisten zu machen. Das wollen wir nicht.«
    »Francis! Hältst du das für richtig?«
    »Ja, Dad.«
    »Auf diese Weise kommt ihr in Amerika nie zu etwas. Meine Frau und ich sind Einwanderer. Wir kamen aus Europa, allein, arm, auf ein Stipendium für ein Medizinstudium her. Als Assistent habe ich für dreihundert Dollar monatlich gearbeitet wie ein Erdbeerpflücker. Meine Frau machte die Verkäuferin im Supermarket. Als meine Assistenzzeit zu Ende war, habe ich auf eigene Rechnung gehungert, gearbeitet, nach Patienten gesucht. Heute habe ich sie. Ich habe auch eine Grapefruit-Ranch als Sonntagsbeschäftigung. Die würde ich Ihnen gern zeigen. Ranch mit mexikanischen Arbeitern. Eine Laufbahn wie die meine steht in Amerika noch immer jedem offen, wenn er nur tüchtig ist.«
    »Jedem einzelnen, nicht wahr?« fragte Ite-ska-wih.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Sie haben Ihr angestammtes Volk verlassen, Doc, nicht wahr? Entschuldigen Sie, wenn ich das so offen frage.«
    »Es kommt mir heute noch komisch vor, daß ich ein Amerikaner sein soll.«
    »Dad«, rief Francis, »das sagst du immer wieder. Du sollst es aber nicht mehr sagen. Wir sind Amerikaner.«
    Raymund lächelte, verzichtend, unverstanden. »Sie also, Missis Mara, möchten Ihr angestammtes Volk nie verlassen?«
    »Nein, nie. Wir alle hier sind entschlossen, unser Volk nicht zu verlassen. Denken wir so,
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