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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen
Autoren: Jean Raspail
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unten zwei Stümpfe an einem großen Rumpf, bei dem Rücken und Hüften zusammengequetscht erschienen. Ein Hals fehlte. Ein dritter Stummel bildete den Kopf. Im kahlen Schädel lagen zwei Augenlöcher, darunter ein Loch als Mund, ohne Zähne und ohne Kehle, eine Art Speiseröhrenklappe.
    Die Augen dieses Wesens lebten und blickten starr gerade vor sich hin, hoch über die Menge hinweg. Sie zeigten zwar Leben, aber keine Bewegung, außer der einzigen, welche der Paria seinem mißgestalten Kind verschaffte. Der Blick aus den Augen ohne Lider traf durch die Gitterschranke den Konsul, der vor Schreck wie hypnotisiert war. Er war zum Tor gekommen, um die Lage zu beurteilen. Er sah die Menge nicht mehr. Er schloß sofort die Augen und schrie:
    »Kein Reis mehr! Kein Visum mehr! Nichts mehr für euch! Schert euch weg! Alle!«
    Als er gerade flüchten wollte, traf ihn ein scharfkantiger Kiesel mitten auf die Stirn und verursachte eine blutende Schramme. Die Augen der Mißgeburt leuchteten auf. Mit einer wackelnden Bewegung dankte sie dem Vater. Dies war die einzige feindselige Handlung. Der Wächter über Milch und Honig aber, der sich mit beiden Händen die Stirn hielt und strauchelnd in sein Konsulat wankte, erschien plötzlich der Menge nur noch ein schwacher Verteidiger der heiligen Tore zum Abendland zu sein. Würde er in seiner Schwäche demjenigen, der warten konnte, nicht doch noch die Schlüssel überlassen? Vielleicht ist dies eine Erklärung?
    Der Sikh schulterte sein Gewehr. Diese Geste genügte. Jeder setzte sich auf die Fersen. Eine stille Ebbe kündigte die Flut an.

6.
     

    »Mitleid!« sagte der Konsul. »Dieses bedauerliche, abscheuliche, hassenswerte Mitleid! Sie nennen es Nächstenliebe, Solidarität, Weltgewissen, aber wenn ich Sie anschaue, sehe ich in jedem von Ihnen nur Selbstverachtung und Verachtung dessen, was Sie vertreten.«
    Mit verbundener Stirn sah sich der Konsul in seinem Büro einem Dutzend Personen gegenüber, die auf ihren Stühlen wie Apostelfiguren auf der Giebelseite einer Kirche saßen. Was diese Statuen gemeinsam kennzeichnete, war ihre weiße Hautfarbe, ihre schmalen Gesichter und ihre schlichte Kleidung – Shorts oder Leinenhosen, khakifarbene Hemden und Leinensandalen –, besonders aber die unruhige Tiefe ihres Blicks, wie er Propheten, Schwärmern, Wohltätern, Fanatikern, Märtyrern, begeisterten Kriminellen und versponnenen Menschen eigen ist, kurz gesagt all denen, welche an Bewußtseinsspaltung leiden, weil sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühlen. Unter ihnen befand sich ein Bischof. Wenn man es aber nicht gewußt hätte, so hätte man ihn nicht von dem Missionsarzt oder von dem weltlichen Idealisten unterscheiden können, welche ihn begleiteten. Man konnte auch nicht den atheistischen Philosophen und den abtrünnigen katholischen Schriftsteller, der zum Buddhismus übergetreten war, herausfinden. Sie waren die geistigen Anführer dieser kleinen Gruppe. Alle blieben schweigsam.
    »Sie sind zu weit gegangen«, fuhr der Konsul fort, »und Sie taten es, weil Sie innerlich so denken, wie Sie handeln. Wissen Sie, wieviel Kinder des Ganges Sie nach Belgien geschickt haben? Ich spreche nicht von Europa, wo einzelne nüchtern denkende Länder ihre Grenzen schon früher als wir geschlossen haben. Vierzigtausend in fünf Jahren! Vierzigtausend! Etwa soviel wie die französischen Kanadier Mitte des 18. Jahrhunderts. Im Herzen unserer weißen Welt haben Sie ein vollendetes Rassenproblem geschaffen, das diese Welt zerstören wird. Und das ist offenbar Ihr Ziel. Keiner von Ihnen besitzt noch den Stolz seiner weißen Haut und weiß, was sie bedeutet.«
    »Weder Stolz noch Gewissen«, bemerkte eine der Statuen. »Der Preis ist die Gleichheit unter den Menschen. Wir werden ihn bezahlen.«
    »Übrigens ist dies alles schon überholt«, sagte der Konsul. »Es geht nicht mehr um Adoptionen, ob verboten oder nicht. Ich habe mit meinen europäischen Kollegen hier im Land telefoniert. Auch sie werden wie ich von einer schweigenden Menge belagert, die auf irgend etwas wartet. Zehntausend Menschen lagern in den Gärten ihrer Konsulate. Überall in der Stadt, wo eine europäische Fahne weht, wartet eine Menschenmenge, ohne ersichtlichen Grund. Noch mehr! Man hat mir gemeldet, daß im Hinterland ganze Dörfer auf der Straße nach Kalkutta unterwegs sind.«
    »Richtig«, sagte eine Statue, deren Gesicht ein blonder Bart zierte. »Viele sind aus Dörfern, die wir betreuen.«
    »Wenn Sie es schon
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