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Das Heerlager der Heiligen

Das Heerlager der Heiligen

Titel: Das Heerlager der Heiligen
Autoren: Jean Raspail
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Reihen der Menge zurückzutreiben. Und da er ein braver Mann war und ihn wirklich niemand bedrohte, weder ihn noch das Tor, das er bewachte, so sagte er gutmütig:
    »Vielleicht bekommt ihr bald etwas zu essen. Aber nach dem Reis müßt ihr gehen. Warten hat keinen Zweck. Es steht auf dem Aushang und ist vom Herrn Konsul persönlich unterschrieben.«
    »Was steht auf dem Aushang?« fragte die Menge, die nicht lesen konnte. »Lies bitte vor.«
    Man konnte allerdings auf dem Papier, das außen am Gitter befestigt war, nicht mehr viel erkennen. Es war von tausend Händen beschmutzt, die es berührt und abgetastet hatten, ohne an das Unglück zu glauben, das es beinhaltete. Der Wachposten kannte jedoch den Text auswendig. Vor einer Woche hatte er ihn einen ganzen Tag vor sich hingesprochen, ohne ein Wort zu ändern, so daß eine Litanei daraus wurde.
    »Durch königlichen Erlaß vom soundsovielten hatte die belgische Regierung bestimmt, alle augenblicklich im Gang befindlichen Adoptionsverfahren auf unbestimmte Zeit einzustellen. Neue Adoptionsanträge werden daher nicht mehr angenommen. Desgleichen wird auch den Kindern, die bereits vor der Ausreise stehen, kein Visum für die Einreise nach Belgien erteilt, selbst wenn sie vor dem Erlaß schon rechtsgültig adoptiert worden waren.«
    Ein klägliches Gezeter ging durch die Menge. Nach der Zahl der Klagelaute, ihrer Dauer und da sie nach kurzer Zeit immer wieder ertönten, schloß der erfahrene Wachposten, daß diese Volksmenge sich seit dem Vorabend mindestens verdoppelt haben mußte.
    »Los! Los!« sagte er und bewegte sein Gewehr. »Zurück! Beruhigt euch! Bevor ihr in eure Dörfer geht, bekommt ihr Reis. Aber ihr dürft nicht mehr kommen. So steht es geschrieben.«
    Aus der vordersten Reihe löste sich eine Frau und begann zu sprechen. Jeder hörte ihr zu, als ob sie im Namen aller auftreten würde. In ihren ausgestreckten Armen hielt sie einen etwa zwei Jahre alten Jungen, der dicht am Gitter mit großen Augen hindurchblinzelte.
    Hundert Frauen drängten nach und streckten ihre Babys entgegen. Es sind meist schöne Babys, die noch durch die Nabelschnur mit ihren bleichen, abgezehrten Müttern verbunden zu sein scheinen. Hinter der ersten Reihe drücken sich Hunderte von anderen Müttern mit Hunderten von Babys vor oder stoßen Hunderte von Kindern als Adoptionsanwärter für den großen Sprung ins Paradies vor sich her. Obwohl dieses Paradies offenbar in weite Ferne gerückt ist, hat die Bekanntgabe des belgischen Erlasses das Begehren eher noch gesteigert. Der Mensch, der zunächst keine Möglichkeiten sieht, ist angeblich feststehenden Dingen gegenüber mißtrauisch. Erfahrungsgemäß ist er immer benachteiligt. Wenn die Chance schwindet, taucht die Fantasie auf und läßt die Hoffnung gerade dann anschwellen, wenn keine Gewißheit mehr besteht.
    In der letzten Reihe der Menge bewegten sich Frauen mit Mißgeburten, die von vornherein keine Erfolgsaussichten hatten. Diese Frauen jammerten lauter als die andern, weil ihre Hoffnung grenzenlos war. Da sie täglich gejagt, zurückgescheucht und abgewiesen wurden, schien es ihnen klar zu sein, daß ein so behütetes Paradies es wert war, daß man notfalls ein Leben lang darum kämpfen mußte.
    Zur Zeit, als das Gitter noch offen war, gelang es manchmal einer Mutter, sich mit ihrer Mißgeburt neben den Müttern mit den schönen Babys einzuschleichen. Das war schon ein Fortschritt auf dem Weg zum Heil, wenn auch der Sikh mit seinem Gewehr vor dem Tor des Konsuls herumfuchtelte. Man war immerhin näher gekommen. Das nährte die Hoffnung, ließ in der Fantasie Brunnen auftauchen, aus denen Milch und Honig nutzlos in fischreiche Flüsse fließen, die bis zum Horizont reichende durch Dauer ernten gesegnete Felder bewässern, und wo sich im Spiel glückliche Mißgeburten trollen.
    Es sind die primitivsten Menschen, die den Erfolg solcher Mythen garantieren. Man hörte diesen begeisterten Schwätzern zu, und jeder nahm billig diese verrückte Vorstellung vom Abendland in sich auf. In dem von Hungersnot geplagten Kalkutta artete sie um ein Vielfaches aus. Ist dies vielleicht eine Erklärung des Geschehens?
    Hinter den Frauen in der letzten Reihe der Menge schwang ein halbnackter Paria, ein Mann von hohem Wuchs, irgend etwas wie eine Fahne über seinem Kopf. Als Berufskotfahrer, Kotstampfer und Former von Kotbriketts hielt dieser Mistkäfer bei der derzeitigen Hungersnot in seinen stinkenden Händen eine Art Lebewesen. Es hatte
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