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- Das Haus der kalten Herzen

- Das Haus der kalten Herzen

Titel: - Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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verspätet habe«, sagte sie. »Ich ziehe mich jetzt schnell an.« Und ohne ein weiteres Wort ging sie zurück zu ihrem Zimmer.
    Während sie an ihrem Kleid zerrte, ließ Mercy sich immer wieder die Ereignisse des vorigen Tages durch den Kopf gehen und Claudius’ Andeutung, sie könne vielleicht ihre Mutter wiedersehen. Wie denn, wenn ihre Mutter doch tot war? Mit geknöpftem Kleid, stellte Mercy sich gerade hin. Wann hatte sie aufgehört, an Thekla zu denken? Wann hatte sie aufgehört, sie zu vermissen? Mercy versuchte, sich daran zu erinnern, was passiert war, aber sie konnte nicht einmal die Erinnerung an das Gesicht ihrer Mutter heraufbeschwören. Der Schmerz unter ihren Rippen zog sich zu einem Knoten zusammen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und bohrte ihre Nägel in die Handflächen. Die Tochter des Zauberers lag mit ihrem Namenszug darin neben dem Bett auf dem Fußboden. Ob sie ohne das Buch selbst den Namen ihrer Mutter vergessen hätte? Sie musste es herausfinden. Einer plötzlichen Eingebung folgend, riss sie ein Stück Papier aus ihrem Tagebuch und kritzelte eine Nachricht an Claudius darauf. Vielleicht konnte sie sie ja in der Kirche liegen lassen.
    Galatea rief erneut und Mercy lief ins Spielzimmer, um ihren Lateinunterricht wiederaufzunehmen. Charity war überaus zufrieden mit sich, denn sie war bereits bei der Arbeit, als Mercy verspätet und mit hochrotem Kopf eintraf. Mercy schlug ihre Bücher auf.
    »Galatea hat gesagt, wir sollen das Gedicht auf Seite 103 übersetzen«, sagte Charity. »Mit der ersten Strophe bin ich schon fertig. Du wirst dich beeilen müssen, wenn du mich einholen willst.«
    Die Gouvernante schaute kurz herein und vergewisserte sich, dass sie arbeiteten. Aber sie verschwand gleich wieder.
    »Sie redet mit Vater«, sagte Charity.
    »Woher weißt du das?«
    »Sie verbringen viel Zeit miteinander«, sagte Charity. »Sie reden.«
    »Woher weißt du das?«, wiederholte Mercy lauter. Ihre Schwester – im Besitz eines Geheimnisses! So was machte sie wahnsinnig.
    »Ich bin ihr gefolgt«, sagte Charity. »Gestern, nach unserem Unterricht, als du in dein Zimmer gegangen bist. Ich hatte Hunger, deshalb bin ich in die Küche gegangen. Und da hab ich sie in Vaters Arbeitszimmer eilen sehen.«
    »Wahrscheinlich wollte sie mit ihm über unsere Fortschritte reden«, sagte Mercy und versuchte, keinen allzu interessierten Eindruck zu machen.
    »Zwei Stunden hat sie mit ihm verbracht«, sagte Charity. »Als sie wieder aus dem Zimmer kam, war es fast schon Schlafenszeit.«
    »So lange hast du gewartet?«
    »Nein.« Charity schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Tür offen gelassen und gehorcht, wann sie zurückkommt. Dann bin ich aus meinem Zimmer gekommen und habe sie erschreckt. ›Galatea‹, habe ich gesagt, ›ich kann nicht schlafen. Liest du mir eine Geschichte vor?‹«
    Mercy machte große Augen. »Und was hat sie gesagt?«
    »Nun, sie wirkte ziemlich aufgeregt. Sie hat mich angelächelt, aber sie hat gesagt, ich sei zu alt für Gutenachtgeschichten. Du glaubst doch nicht etwa«, sagte Charity schelmisch, »dass sie sich in Vater verliebt?«
    Mercy spürte eine merkwürdige Enge im Hals. Die Vorstellung erfüllte sie mit Abscheu. »Eine Liebesgeschichte?«, flüsterte sie. »Vater und Galatea?«, und lauter sagte sie: »Nein, natürlich nicht, du dumme Gans! Wie kannst du nur so was sagen! Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Wie kommst du nur darauf, dass Vater sich in diese schreckliche Frau verlieben könnte!«
    Das letzte Wort musste sie hinunterschlucken, weil die Frau höchstpersönlich den Raum betrat. Mercys Gesicht wurde heiß und rot.
    Galatea sah die beiden Mädchen an.
    »Wie geht die Übersetzung voran?«, fragte sie. »Mercy! Du hast ja noch nicht einmal angefangen. Nun streng dich aber an! Du bist faul heute.«
    Mercy starrte auf die leere Seite in ihrem Heft.
    »Ja, Galatea, entschuldige bitte«, murmelte sie. Sie konzentrierte sich auf das Gedicht. So viele andere Gedanken spukten ihr im Kopf herum, dass es ihr nicht leichtfiel, sich zu konzentrieren. Aber das Gedicht war nicht besonders schwer zu übersetzen und sie war vor Charity fertig. Die Gouvernante saß bei ihnen, beaufsichtigte sie und machte Vorschläge.
    Nach dem Mittagessen spazierten sie zusammen bis hinunter an den See. Ganz glatt und schwarz war das Wasser. Das Ufer hatte einen Saum aus lauter braunen Schilfkolben und einen Eisrand. In der Ferne quakten Enten.
    Die Gouvernante war
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