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- Das Haus der kalten Herzen

- Das Haus der kalten Herzen

Titel: - Das Haus der kalten Herzen
Autoren: Sarah Singleton
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war dunkel, aber das Lachen war echt. Sie hörte es wieder. Das Lachen eines Kindes, voller Leben und Wonne.
    Dieses Geräusch hatte Mercy früher schon oft gehört. Es war Teil des Morgens und so vertraut, dass sie es kaum noch wahrnahm, wie die Gemälde, an denen sie vorbeiging, ohne die Bilder darauf zu sehen. Das Lachen gehörte dem Geist eines kleinen Mädchens, das auf dem langen Flur vor ihrem Zimmer auf und ab lief. Es klang glücklich und lebendig und heute hatte Mercys Gehirn dieses Lachen im Schlaf registriert.
    Nun war sie ganz wach und gähnte. So viele der kleinen Dinge des Lebens waren in ihrer Wahrnehmung verblasst. Erst jetzt fing sie wieder an, dies und das zu bemerken. Das Schneeglöckchen an ihrem Bett fing schon an, im Wasserglas zu welken. Mercy kletterte aus dem Bett, vorsichtig öffnete sie die Tür und warf einen schnellen Blick hinaus. Da war sie – der Geist. Das Mädchen sah aus, als wäre sie ungefähr zehn Jahre alt. Sie trug ein wunderschönes Kleid, es war mit Perlen verziert. Vielleicht war sie Gast bei einer Hochzeit oder einem besonderen Fest, und vielleicht war ihr Augenblick des Glücks in den Flur entwischt, weil sie zu diesem Zeitpunkt so sehr sie selbst gewesen war wie sonst nie.
    Mercy lächelte, aber sie wusste, dass der Geist sie nicht sehen konnte. Das Mädchen hüpfte. Sie schien mit jemandem zu spielen, den Mercy nicht sehen konnte, und kicherte. Der Geist hielt sich die Augen zu und begann zu zählen. Ein Versteckspiel. Doch der Geist schummelte. Sie spreizte die Finger und lugte hindurch.
    Der unsichtbare Spielgefährte des Geistes war jetzt offenbar nicht mehr in Sichtweite, denn der Geist nahm die Hände herunter. Sie drehte die Füße mal in die eine, mal in die andere Richtung und überlegte sich, wohin sie gehen sollte. Dann huschte sie davon in die Dunkelheit. Mercy hatte das Mädchen schon so oft gesehen. Der Geist folgte immer haargenau demselben Bewegungsablauf und machte immer dieselben Geräusche. Aber Mercy hielt sich ihrerseits jetzt nicht mehr an das Muster. Sie folgte dem Geist den Flur entlang.
    Das Geister-Mädchen schaute über die Schulter zurück, sie suchte jemanden. Sie fing an zu rennen, dann ging sie wieder langsamer. Manchmal hüpfte sie. Sie hatte ihren Spaß, tollte mit jemandem herum, führte jemanden an der Nase herum.
    Mercy musste sich beeilen, um Schritt zu halten. Der Flur war breit, er zog sich durch den ganzen vorderen Teil des Hauses. Hohe, sternengefleckte Fenster ragten zu ihrer Linken auf. Sie kam nicht oft hier entlang. Der größte Teil des Hauses war stillgelegt worden, hier wohnten nur noch Staub und Spinnen. Der Geist verschwand mit einem Mal, als helles Mondlicht durch ihn hindurchschien. Er verlosch. Dann konnte Mercy das Mädchen wieder sehen, weiter voraus, schon vorbei an der Fensterfront. Sie folgte ihr.
    Das kleine Mädchen hielt vor einem Wandbehang zu seiner Rechten inne. Sie schaute durch Mercy hindurch, die jetzt direkt neben ihr stand. Wie hübsch dieser Geist war. Die Haut war sehr blass, die Wimpern hellgolden. Die Kleine schien zu zögern. Sie drehte sich schnell um, hob eine Hand – dann war sie verschwunden.
    Für einen Moment schien das Haus den Atem anzuhalten. Mercy zitterte in einem kalten Luftzug. Hinter der Holzvertäfelung raschelte eine Maus. Mercy rieb sich die Oberarme. Auf dem Wandteppich tanzten ein Hirsch und ein Einhorn auf den Hinterbeinen, jedes Tier auf seiner Seite eines blau-goldenen Schildes. Das Bild war mit Staub bedeckt, dicke Spinnweben hielten es an der Wand fest. Vorsichtig streckte Mercy die Hand aus, um den Staub abzuwischen.
    »Mercy? Mercy!«
    Der schneidende Klang der Stimme ließ sie zusammenzucken. Mercy zog schnell die Hand zurück. ’
    »Du kommst zu spät zum Frühstück und Charity hat bereits mit dem Unterricht begonnen.« Es war Galatea, sie marschierte den Flur entlang. Sie blieb neben Mercy stehen. »Was tust du hier?« Galatea runzelte die Stirn, der Argwohn war ihr deutlich anzusehen.
    Mercy schluckte nervös. Immer schimpfte Galatea mit ihr. Mercy wusste, dass sie die Gouvernante mit ihren Tagträumen und ihrer Nachlässigkeit reizte. Sie wollte Galatea keinen weiteren Grund zum Unmut geben.
    »Nichts«, murmelte Mercy. »Nichts. Ich war nur … Ich war …«, sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
    Galatea schaute den Wandteppich an, dann wieder Mercy.
    »Suchst du etwas Bestimmtes?«, sagte sie.
    Mercy schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, dass ich mich
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