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Das Haus an der Klippe

Das Haus an der Klippe

Titel: Das Haus an der Klippe
Autoren: Reginald Hill
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felsigen Boden, dem nur die pustelartigen Flechten ein wenig Farbe verliehen. Schaudernd zog er den Mantel enger um sich. Abgesehen von den Krabben, die hier und da aufgescheucht davonhuschten, regte sich nichts, ja, es gab nicht einmal Vegetation, die sich im auffrischenden Wind bewegt hätte.
    »Wenn das deine Vorstellung von einem wunderbaren Morgen ist, will ich mir lieber nicht ausmalen, wie es auf Ithaka aussieht«, bemerkte er verdrießlich. »Was soll das, Odysseus? Ich warne dich. Wenn du glaubst, du könntest irgend etwas gewinnen, indem du meine Zeit vergeudest, dann besinne dich.«
    »Deine Zeit vergeuden, Fürst? Das würde ich nie wagen!« rief der Grieche. »Sieh an. Was haben wir denn hier?«
    Sie näherten sich einem großen Felshügel, der schwarz und bedrohlich aufragte, als habe ihn ein riesenhafter Wanderer als Wegmarkierung aufgeschichtet. Aus einer dunklen Spalte zwischen zwei Felsen trat eine Gestalt hervor, in schmuddelige Lumpen gekleidet und, nach der Länge ihrer verfilzten Haare zu urteilen, weiblichen Geschlechts. Sie stützte sich mühsam auf einen Stab, der fast so krumm und knorrig war wie ihre eigene knochige Gestalt. Ihr zahnloser Mund öffnete sich zu einem lautlosen Kichern, und links von ihrer krummen Nase leuchtete ein Auge, das sich auf die nahenden Männer heftete, während der andere Augapfel mit wolkengrauer Pupille unstet umherschweifte, als suche er eine himmlische Botschaft.
    »Das ist sie, eben jene widerwärtige Alte, die mich im Lager aufgesucht und vor meinem Schicksal gewarnt hat«, sagte Äneas. »Mit ihr zu verhandeln hat keinen Sinn. Wir müssen sie zwingen, uns zu ihrer Herrin zu bringen, der Nymphe Kalypso. Nur von Angesicht zu Angesicht können wir eine Bitte vorbringen, die …«
    Aber Odysseus hörte ihm nicht zu.
    Zum Erstaunen des Trojaners rannte der dicke Grieche voraus, und als er bei der abstoßenden Kreatur anlangte, warf er sich zu Boden, ergriff den Saum ihres ekelhaften Gewandes und drückte sein Gesicht auf ihre schmutzigen, klauenartigen Füße. Äneas, obgleich durch bittere Erfahrung abgehärtet gegen Bilder des Schreckens, verspürte einen Würgereiz, als er sah, wie Odysseus jene grüngelblich eiternden Wunden küßte.
    »In Athenes Name, Odysseus, vergiß nicht, wer du bist«, rief der Trojaner. »Ein Fürst aus königlichem Hause, das Blut der Götter fließt in deinen Adern! Wie können wir hoffen, der Nymphe von gleich zu gleich zu begegnen, wenn du dich vor der abscheulichsten ihrer Kreaturen so erniedrigst?«
    Aber Odysseus blickte nur auf und sagte: »Fürst, verbeuge dich auf der Stelle. Selbst wenn du so dumm bist zu glauben, es stünde dir schlecht an, einer Gottheit zu huldigen, sei wenigstens ein Mann und zolle der Schönheit die Bewunderung, die sie verdient.«
    »Schönheit!« empörte sich Äneas. »Kamele sehen von hinten schöner aus als die von vorn. Neben ihr ist Achates eine Helena. Abscheuliche Hexe, bring uns sofort zu deiner Herrin, oder ich prüfe mit meinem Schwert, wie weit es her ist mit deiner Göttlichkeit.«
    Er hatte die Waffe gezückt und der Kreatur an die Kehle gesetzt, aber Odysseus sprang auf und stieß es beiseite. Dann warf er sich erneut zu Boden und flehte demütig: »Vergib diesem trojanischen Narren, Herrin. Kummer, Trauer und Erstaunen über deine große Schönheit haben ihn in den Wahnsinn getrieben. Ich bitte, inthronisiere dich hier in deinem Gemach und leihe den demütigen Bitten von uns armen Sterblichen dein Ohr.«
    Die Alte beugte sich nieder, nahm den großen Kopf des Griechen in ihre klauenartigen Hände und zog ihn hoch, bis sie ihm tief in die Augen schauen konnte.
    »Sage mir, Odysseus, was siehst du hier?« fragte sie, und ihre Stimme glich mehr dem Krächzen eines Vogels, der menschliche Töne zu imitieren gelernt hat, als dem Organ einer Frau.
    »Ich erblicke edle Weisheit und liebreiches Erbarmen, vereint in einem Gesicht von solcher Schönheit, daß es größte Begierde in einem Mann weckt, der sich gleichwohl seiner geringen Verdienste bewußt ist.«
    »Begierde? Du begehrst mich?« Die Hexe riß den Mund weit auf, so daß ihr fauliges Zahnfleisch sichtbar wurde, und kicherte höhnisch. »Dann fröne deiner Lust, du Schlauster aller Griechen. Willst du mir nicht wenigstens einen Kuß rauben?«
    Ihr klaffender Schlund sah für Äneas aus wie das Tor zum Hades. Er erschauderte bei dem Gedanken, diese rissigen, speichelnassen Lippen zu berühren, diese schlangenartige, schuppige Zunge
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