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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden
Autoren: Boris Akunin
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seufzte. »Die ganze Aufregung gilt doch nur der Aktentasche. Sie müssen wissen, Sir, der alte Gentleman hat sich nicht nur von seinem Rollstuhl losgemacht, er hat wie durch ein Wunder auch den Schlüssel zum Sekretär im Zimmer von Lord Daniel gefunden. Obwohl das nicht weiter erstaunlich ist, der Graf kennt natürlich sämtliche Geheimverstecke im Haus. Im Sekretär lag neben Geld, Wertpapieren und wichtigen Dokumenten auch eine saffianlederne Aktentasche, und die enthält das Testament des Grafen und vor allem ein Brillantcollier namens ›Galaxy‹, ein Familienerbstück der Berkeleys. Der Großvater des Grafen, der erste Graf Berkeley, brachte dieses Schmuckstück seinerzeit aus Indien mit. Es wird stets unter Verschluss verwahrt und nur zur Hochzeit des ältesten Sohnes hervorgeholt. Ich habe die ›Galaxy‹ zweimal zu Gesicht bekommen: 1841, am Hals von Lady Berkeley, und 1870, als Lord Daniel heiratete. Der Wert des Colliers lässt sich schwer schätzen, aber als wir wegen der Eisenbahnkrise finanzielle Schwierigkeiten hatten, bot die Barclays Bank hunderttausend Pfund als Pfand dafür an. Das lehnten wir natürlich ab.«
    »Hat wirklich der Alte die Tasche?«, fragte Fandorin. »Was, wenn …«
    »Ja doch, er hat sie!«, rief der Butler, und dass er sich erlaubte, sein Gegenüber zu unterbrechen, zeugte von seiner großen Erregung. »Der Ladenjunge hat genau gesehen, dass der Lord eine ›schmutzigrote Tasche‹ unterm Arm trug – so hat der kleine Tölpel die antike Saffianledertasche beschrieben.«
    Miss Palmer erkundigte sich mit zusammengekniffenen Augen: »Waren Sie bei der bewussten Frau in Bath?«
    »Aber natürlich! Als Allererstes. Ich bin selbst hingefahren. Allerdings vergebens. Sie konnte schon früher kaum als Dame gelten, und nun ist sie noch mehr aufgegangen, sie hat Arme wie zwei Schinken.«
    »Sie war grob zu Ihnen?« Miss Palmer schüttelte mitfühlend den Kopf.
    »Sie hat mich die Treppe hinuntergeworfen – ja, ich fürchte, genau so muss man das nennen. Sie ist stark wie ein Hafenarbeiter. Und zu allem Übel war der Graf nicht bei ihr. Ich habe alle ihre Nachbarn abgeklappert, und die Polizei hat auf der Strecke zwischen Bristol und Bath vergebens nach Zeugen gesucht. Niemand hat einen alten Mann im Schlafrock und mit einer Aktentasche unterm Arm gesehen.«
    Fandorin war erstaunt.
    »Soviel ich weiß, sind es von hier bis Bath gut fünfundzwanzig Meilen. Wie soll ein normalerweise an den Rollstuhl gefesselter alter Mann die bewältigen?«
    »Ach, Sir, Seine Erlaucht ist nur im Kopf schwach, seine Beine sind noch stark. Darum wurde er ja an den Rollstuhl gefesselt, er konnte einfach nicht stillsitzen. Außerdem kann man mit der Pferdebahn bis zur Bahnstation fahren und von dort mit dem Zug nach Bath.«
    »Auf dieser Strecke hat die Polizei wohl nach Zeugen gesucht?«, fragte Miss Palmer tadelnd.
    »Wo denn sonst? So gelangt man doch nach Bath.«
    »Aber nicht Graf Berkeley«, unterbrach sie ihn. »Erstens gab es vor achtundzwanzig Jahren, als er das letzte Mal das Haus verlassenhat, noch keine Pferdebahn. Zweitens fuhr er nie mit dem Zug, wenn er diese Frau besuchte. Er ritt oder nahm den Dogcart, erinnern Sie sich an seinen entzückenden schwarzlackierten zweisitzigen Einspänner? Sagen Sie der Polizei, sie soll auf der Landstraße nach ihm suchen, irgendwo zwischen Brislington und Keynsham oder hinter Saltford. Da gibt es jede Menge Gebüsch, Haine und Wäldchen am Weg.«
    Der Butler kratzte sich den Backenbart.
    »Nun, ich bin es gewohnt, Ihrem Gespür zu vertrauen. Ich gehe gleich Chiefinspector Dodd anrufen. Aber denken Sie an meine Worte: Wir werden den alten Grafen nicht lebend wiedersehen. Der Ärmste liegt irgendwo mit durchgeschnittener Kehle, und das Collier taucht eines Tages bei einem Hehler auf. Oder, noch schlimmer, es wird in Einzelteile zerlegt und verkauft, das wäre dann das Ende der ›Galaxy‹.«

    »Nein, das hat doch keinen Zweck«, sagte Miss Palmer nachdenklich, als der Butler gegangen war. »Das abzusuchende Gebiet ist viel zu groß. Bis die Polizei alles durchkämmt hat, holt sich der arme Geoffrey eine Lungenentzündung – die Nächte sind kalt, und er hat nur einen Schlafrock an. Er hat mich zwar nie gemocht und mich oft gekränkt, als wir Kinder waren …«
    Sie schien unschlüssig.
    »Ich müsste durch den Park gehen, aber da ist dieses furchtbare Tier … Obwohl – Miss Flame ist bestimmt schlimmer als ein Leopard. Vielleicht wirft sie auch mich die
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