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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden
Autoren: Boris Akunin
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Treppe hinunter? Andererseits verdanke ich Geoffreys Vater so vieles. Und ich bin lange nicht Eisenbahn gefahren … Was würden Sie mir raten, Mr. Fandorin?«
    »Bevor ich mir erlaube, Ihnen Ratschläge zu erteilen, w-wüsste ich gern genauer Bescheid. Wenn ich richtig verstanden habe, sind Miss Flame und die zuvor erwähnte Frau ein und dieselbe Person?Des Grafen ehemalige Geliebte oder etwas in der Art? Und sie lebt in Bath?«
    »Ganz recht. Eine ganz triviale Geschichte, bis auf das Ende. Trinken Sie doch ein Tässchen Tee und essen Sie ein paar Kekse, und ich erzähle Ihnen von der Frau aus Bath. Das kostet nicht viel Zeit.«
    Fandorin lehnte das Gebäck höflich ab, rührte mit einem Löffel in seinem Tee herum und war ganz Ohr.
    »Geoffrey ist es ergangen wie vielen fünfzigjährigen Männern, die ihr Leben vernünftig und ohne große Aufregung zugebracht haben. Er war streng auf Etikette bedacht und zugleich ein recht ungehobelter Kerl, was bei reichen Leuten von Stand oft zusammenfällt. Er war stets davon überzeugt, im Recht zu sein, ging jeden Sonntag in die Kirche und war Vorsitzender der ›Gesellschaft zum Kampf gegen die Unmoral‹ und so weiter und so fort. Und plötzlich erlitt der Graf, wie seinerzeit sein Vater, einen Schlaganfall – einen relativ leichten, sodass er sich bald wieder erholte, aber seitdem war er total verändert. Ich nehme an, er hatte zum ersten Mal gespürt, dass er sterblich ist und das Leben mehr oder weniger an ihm vorbeigegangen war. Wir Frauen ertragen diese Erkenntnis leichter«, bemerkte Miss Palmer mit einem sanften, traurigen Lächeln. »Allerdings haben wir mit fünfzig ohnehin weniger Möglichkeiten, über die Stränge zu schlagen. Genau das tat der Graf nämlich: Er warf seine Fesseln ab und schlug über die Stränge.«
    »Bei uns sagt man: ›Wenn einer graue Haare bekommt, stößt ihn der Teufel in die Rippen‹«, meinte Fandorin.
    »Genau. Die blühende junge Person namens Molly Flame gehörte zu den Jahrmarktsattraktionen im Kurort Bath. Sie trat mit Zaubertricks auf und legte ihren Kopf in den Rachen eines Löwen. Die meisten Zuschauer aber bewunderten vor allem ihre einmalige Seiltanznummer. Ich selbst habe sie nie gesehen, aber man hat mir erzählt, das Einzigartige an dieser Nummer seien nicht so sehrelegante Pas gewesen als vielmehr die enganliegenden Pantalons der Seiltänzerin.« Miss Palmer senkte keusch den Blick. »Kurz, der Graf, eben noch eine Stütze der Gesellschaft, verlor wegen Miss Flame den Kopf. Anfangs suchte er noch den Anstand zu wahren und die Affäre geheimzuhalten, dann aber drehte er vollends durch: Er überschüttete sie mit Blumen und Geschenken, kaufte sämtliche Zuschauerplätze auf, um den bewussten Tanz ganz allein zu genießen, und so weiter. Zum Glück lebte Lady Berkeley damals noch, sonst hätte Geoffrey seine Zirkusartistin bestimmt geheiratet. Aber er ersann etwas in gewisser Hinsicht noch Skandalöseres. Eines schönen Tages rief er die ganze Familie zusammen, erklärte, er liebe Miss Flame mehr als sein Leben, und da er sich mit ihr in dieser Welt nicht vereinen könne, wolle er im Jenseits für immer mit seiner Passion zusammen sein. Sie können sich die Szene gewiss vorstellen. Der armen Lady musste viermal das Riechsalz gereicht werden. Aber das Wichtigste kam erst am Schluss. Der Notar verlas das Testament, nach dem Miss Flame neben dem Lord in der Familiengruft beigesetzt werden sollte. Falls die Erben diesen seinen Willen missachteten, ginge sämtlicher Besitz, der nicht dem ältesten Sohn zustehe, an die Königliche Stiftung für Witwen und Waisen. Neben den Bankkonten des Grafen also auch das Galaxy-Collier, der größte Schatz der Familie Berkeley.«
    »Vielen Dank.« Fandorin nahm die zweite Tasse Tee entgegen und bat Miss Palmer mit einer Handbewegung, die Milch wegzulassen. »Sehr interessant.«
    »Natürlich tagte der Familienrat – hinter dem Rücken des Grafen. Ihn als unzurechnungsfähig zu erklären war unmöglich, das Papier war formal exakt aufgesetzt. Die Kinder trösteten sich damit, dass er noch gesund sei und lange leben würde; mit der Zeit würde er sich wieder fangen und von seiner skandalösen Idee Abstand nehmen. Aber Geoffrey hatte andere Pläne. Während seine Familie noch hinter seinem Rücken tuschelte, fuhr er nach Bath. Was er genau vorhatte,weiß niemand, doch zweifellos hegte er die entschiedensten Absichten. Der Tollkopf wurde auf der Straße vor der Wohnung von Miss Flame gefunden,
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