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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden
Autoren: Boris Akunin
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mit einer geladenen Pistole in der Tasche.«
    »Was heißt – gefunden?«
    »Er hatte einen zweiten Schlaganfall erlitten, und der war viel schwerer als der erste. Seit diesem Tag, seit nunmehr achtundzwanzig Jahren, ist Geoffreys Verstand getrübt. Ob er damals bei Miss Flame war oder ob der Schlaganfall ihn vorher getroffen hat, weiß niemand. Sie selbst schweigt. Jegliche Verhandlungen mit den Angehörigen des Kranken lehnte sie stets strikt ab, und zwar mit den deftigsten Ausdrücken. Das ist die ganze Geschichte.«
    »Das ›schockierende Testament‹ besitzt also noch immer seine Gültigkeit?«
    »Natürlich. Da der Erblasser nicht mehr ›im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist‹, konnte er es nicht mehr ändern.«
    »Und dieses Dokument lag zusammen mit dem C-collier in der saffianledernen Aktentasche?« Fandorin überlegte. »Nun, in diesem Fall wäre es am besten, nach Bath zu fahren und zu versuchen, Madame Flame zum Reden zu bringen.«
    »Das meinen Sie also auch?«, fragte Miss Palmer verzagt. »Mein Gott, wie sehr mir das widerstrebt! Aber wenn wir nur täten, was wir möchten, und unterließen, was uns die Pflicht gebietet, würde die Menschheit noch immer ohne Hosen herumlaufen. Nun, dann muss ich wohl an dem Leoparden vorbeigehen und furchtlos meinen Kopf in den Rachen dieser Frau legen.«
    Die alte Dame schlug kräftig mit der Faust auf den Tisch, doch ihre Stimme zitterte ein wenig, und Fandorin sagte: »Erlauben Sie mir, Sie zu begleiten. Mit dem L-leoparden werde ich schon irgendwie einig, und was Miss Flame angeht – zwei Personen die Treppe hinunterzuwerfen ist schon schwieriger.«
    Sein Vorschlag wurde dankbar angenommen.

    Vor dem Bahnhof, dem ältesten in ganz England, fand gerade eine Glückslotterie statt. Unter dem grellbunten Schild: »Helfen Sie dem Guten, und Gott wird es Ihnen vergelten! Hauptgewinn 500 Pfund!« standen mehrere Lostrommeln.
    Fandorin und seine Dame beobachteten den Handel mit dem Glück eine Weile – ihr Zug fuhr erst in einer guten Viertelstunde, und sie hatten nichts weiter zu tun.
    Schon bald erregte ein Los ganz vorn in der Trommel Fandorins Aufmerksamkeit. Es unterschied sich in nichts von den übrigen, hatte aber dennoch etwas Besonderes an sich.
    Der Losverkäufer drehte die Trommel, das Los verschwand zwischen den anderen und tauchte an der Seite wieder auf. Fandorin hätte schwören können, dass dies der Hauptgewinn war. Dieses Los strahlte als Einziges in dem Haufen ein gewisses Leuchten aus.
    Fandorin runzelte die Stirn und wandte sich ab. Sich an Wohltätigkeit zu bereichern – das fehlte noch.
    »Ach, wenn es mir nur nicht so leid täte um den Shilling«, seufzte Miss Palmer. »Dann würde ich gern mein Scherflein zum Guten beitragen und zugleich mein Glück versuchen. Fünfhundert Pfund! Das würde alle meine Probleme auf einen Schlag lösen.«
    »Ich finde, Gutes zu tun, indem man den Eigennutz und die niederen Instinkte anspricht, ist eine P-profanation«, erklärte Fandorin ärgerlich, noch immer gegen die Versuchung ankämpfend. Fünfhundert Pfund wären auch ihm sehr zustatten gekommen.
    »Erlauben Sie, Ihnen zu widersprechen, mein lieber Erast.« Die alte Dame nahm den Arm ihres Begleiters, nachdem sie ihn bereits in der Pferdebahn um Erlaubnis gebeten hatte, ihn beim Vornamen zu nennen. »Das Gute muss lernen, eine Ware zu sein und sich nach den Gesetzen des Marktes zu richten. Einer der schlimmsten Irrtümer unserer Zivilisation ist die Annahme, die Überlegenheit des Guten gegenüber dem Bösen sei offensichtlich und bedürfe keiner Beweise. Satan ist kein ungehorsamer Schüler Gottes. Dassind zwei gleichstarke und gleichberechtigte Parteien. Ich weile schon sehr lange auf der Welt und bin zu der Überzeugung gelangt, dass das Gute dem Bösen in jeder Hinsicht unterlegen ist, und zwar, weil es nicht versteht, sich darzubieten, sich zu verkaufen, wenn Sie so wollen. Der Sieg Gottes über den Teufel und des Guten über das Böse ist durch nichts und niemanden garantiert. In einer schwierigen Situation auf Gottes Hilfe zu vertrauen ist äußerst verantwortungslos und infantil.«
    »Bei uns sagt man: ›Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott‹«, bestätigte Fandorin.
    Das gefiel Miss Palmer.
    »Ein Volk mit einer solchen Maxime hat Aussichten auf eine große Zukunft. Warum ist denn unsere Welt oft so schrecklich? Warum gibt es so viele Verbrechen? Weil das Böse sich weit besser darbietet. Wenn der Mensch geboren wird, muss er sich für
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