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Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden
Autoren: Boris Akunin
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die beiden ebenso süffisant wirkenden Halbwüchsigen an der rechten Flanke waren die Frau und die Söhne von Lord Daniel. Die Blonde mit der süffisanten Miene und die beiden langweiligen Mädchen an der linken Flanke gehörten zu Hochwürden.
    Die Lynns (so hieß das Geschlecht der Grafen Berkeley) waren in ihrem Familiennest zusammengekommen, um den achtzigsten Geburtstag des Patriarchen zu begehen. Es fehlte nur der dritte Bruder, der Ehrenwerte Tobias, den Miss Palmer als schwarzes Schaf der Familie bezeichnete.
    »Irgendwer muss dem ein Ende bereiten«, sagte die Lady, den empörten Blick auf Fandorin geheftet, obgleich dieser kaum Anlass zu Entsetzen bot: ein eleganter, tadellos gekleideter Gentleman mit einem blasslila Veilchen im Knopfloch und einem Bambusstock in der Hand.
    Fandorin sah durch das Panoptikum hindurch, tat, als gelte sein Lächeln nicht der Gesellschaft, sondern der Frühlingssonne, undwollte vorbeigehen, doch da tauchte aus dem Gebüsch das fehlende Familienmitglied auf, und zwar, wie Miss Palmer Fandorin bereits erzählt hatte, in exotischer Begleitung.
    Warum der jüngste Sohn von Graf Berkeley unverheiratet geblieben war und den Militärdienst im niederen Rang eines Hauptmanns quittiert hatte, war auch ohne Deduktion unschwer zu erraten. Das schwarze Schaf der Familie machte in der Tat einen düsteren Eindruck: Trübe Augen, die ererbten runden Bäckchen von einem Netz roter Äderchen durchzogen, der Gehrock mit Zigarrenasche bestäubt.
    Doch Fandorin betrachtete nicht den Ehrenwerten Tobias, sondern das prächtige Tier, das dieser an der Leine führte. Es war ein afrikanischer Leopard.
    Fandorins Vermieterin wusste vom Butler, dass der Hauptmann sich nie von seinem Raubtier trennte, es überallhin mitnahm. Außerdem hatte sie gehört, dass der Leopard nachts an das Gitter des Schmiedeeisernen Pavillons gekettet wurde, und ging seitdem nicht mehr in den Park. Miss Palmer hegte den Verdacht, dass der wilde Afrikaner nur zu einem einzigen Zweck nach Berkeley House gebracht worden war: Um die Bewohnerin des Flügels zu Tode zu erschrecken.
    Doch Fandorin fand den Leoparden nicht furchteinflößend. Natürlich hatte er die starren Augen des geborenen Mörders und einen schleichenden Gang, und unter der weichen Lippe blitzte bisweilen ein scharfer Reißzahn hervor, doch die Schönheit der gelbschwarzen Raubkatze ließ die Gefahr vergessen. Das breite, mit glitzerndem Strass besetzte Halsband aus blutrotem Samt und die goldene Kette, die der Hauptmann fest in der Hand hielt, vervollständigten das prächtige Bild.
    »Hier Tobias, sieh dir das an.« Lord Daniel wies mit dem Kinn auf Fandorin. »Sie macht unseren Park zum Durchgangshof.«
    Der jüngste Bruder lachte ungut und stieß einen eigenartigenPfeifton aus, bei dem sich das Fell des Leoparden sträubte, er den Kopf zu Boden senkte und die funkelnden Augen auf Fandorin richtete.
    Die Neffen und Nichten des Hauptmanns sprangen beiseite, auch die beiden Ladys wichen vorsichtshalber ein Stück zurück.
    »Skalper mag es nicht, wenn Fremde hier herumlaufen«, zischte der Ehrenwerte Tobias. »Vor kurzem hat er in meinem Haus einen Einbrecher skalpiert.«
    Er pfiff erneut. Die Raubkatze schlug nervös mit dem Schwanz auf den Boden und fletschte die Zähne.
    »Wagen Sie nicht, das Tier zu provozieren!«, warnte der Ehrenwerte Tobias dreist. »Ihr alle könnt bezeugen, dass dieses Subjekt Skalper gereizt hat!«
    Der Pastor bemerkte mit unchristlicher Blutrünstigkeit: »Du kommst bestimmt nicht mit dem Gesetz in Konflikt, wenn Skalper den Eindringling zerfleischt. Schließlich hat ihn niemand in unseren Park eingeladen.«
    Wenn man von mehr als einer Person angegriffen wird, muss man sich dem Stärksten der Gruppe zuwenden. Darum ignorierte Fandorin Hochwürden und den Ehrenwerten Tobias und konzentrierte sich auf das Tier.
    Der Mann, der ihn einst gelehrt hatte, jeden Gegner zu besiegen, hatte gesagt: »Wenn dich ein Tier bedroht, egal, ob Tiger oder Schlange, musst du vor allem demonstrieren, dass du ihm nichts Böses willst, aber auch keine Angst hast. Bewege dich nicht, konzentriere deine Ki-Energie im Blick. Ist deine Ki-Energie zu gering, stirbst du. Hast du genug Kraft, weicht das Raubtier zurück.«
    Etwa eine halbe Minute lang testete Fandorin, wie es um seine Ki-Energie stand. Offenbar reichte sie aus – der Leopard setzte sich, kniff die Augen zusammen und gähnte, obgleich der Ehrenwerte Tobias ununterbrochen pfiff wie ein
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