Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Halsband des Leoparden

Das Halsband des Leoparden

Titel: Das Halsband des Leoparden
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
leiblichen Kinder fochten das Testament gerichtlich an. Sie hätten den Prozess zwar kaum gewinnen können, denn der alte Graf hatte seinen letzten Willen tadellos niedergelegt, doch die frischgebackene Erbin verzichtete von sich aus auf den ihr zugefallenen Reichtum – sie hielt diese Auszeichnung für unverdient. Schließlich hatte sie nur getan, was sie tun musste.
    Der älteste Sohn des Verstorbenen, der jetzige Graf Geoffrey Berkeley, dankte Miss Palmer überschwenglich und überließ ihr den Seitenflügel des Stammsitzes in Bristol zur lebenslangen Nutzung.
    Seitdem waren über vierzig Jahre vergangen. Der Graf erlitt wie seinerzeit sein Vater einen Schlaganfall, verlor den Verstand und siechte in den hinteren Zimmern des Hauses dahin, und seine Nachkommen erinnerten sich partout nicht, wieso die unnütze alte Frau eigentlich den Seitenflügel ihres Hauses bewohnte.
    »Wer hätte gedacht, dass ich so lange lebe?«, seufzte die alte Dame. »Mein Vater, der arme Junge, ist die Krone teuer zu stehen gekommen. Er selbst wurde nur knapp zweiundzwanzig, seine Tochter aber bezieht nun schon ein Vierteljahrhundert lang eine Pension.«
    Solange Miss Palmer vom alten Grafen versorgt wurde, hatte sie ihre Waisenrente auf die hohe Kante gelegt, und nun hielt sie sich mit den Prozenten des kleinen Kapitals über Wasser – dank geringer Bedürfnisse und virtuoser Sparsamkeit. Wären ihr nur die Bewohner des Haupthauses nicht so feindlich gesonnen gewesen! Mit aller Macht versuchten sie, die lästige alte Dame zu vertreiben, indem sie ihr das Leben immer unerträglicher machten.
    Sie konnten die alte Dame nicht daran hindern, im Park spazieren zu gehen (dieses Recht war ihr in dem Papier über das lebenslange Nutzungsrecht ausdrücklich zugebilligt worden), verboten ihr jedoch, das Tor zu benutzen, so dass sie, wenn sie auf die Straßehinaus wollte, die hintere Pforte benutzen musste. Sie zwangen sie, die Katze abzuschaffen, die seit fünfzehn Jahren bei ihr gelebt hatte. Und ersannen immer neue Schikanen.
    Am Ende reifte in Miss Palmer ein Plan: Sie wollte sich eine zusätzliche Einnahmequelle suchen und ein Haus auf dem Land erwerben, irgendwo in der Nähe von Exmoore – damit sie jeden Morgen nach dem Aufwachen das Meer sehen konnte.
    Darum hatte sie die Anzeige in der »Western Daily Press« aufgegeben. Zwar hatte sie mit den ersten Untermietern kein großes Glück gehabt und bislang nur dreißig Pfund sparen können, also ein Zehntel der erforderlichen Summe, doch die alte Dame verzagte nicht.
    Ihre feste Entschlossenheit, ja allein ihre Fähigkeit, mit sechsundsiebzig Jahren langfristige Pläne zu hegen, nötigten Fandorin aufrichtige Bewunderung ab, zu der sich alsbald tiefes Mitgefühl gesellte – nachdem er die Bekanntschaft mit Miss Palmers Nachbarn gemacht hatte.
    Der neue Untermieter begegnete ihnen gleich an einem der ersten Tage bei einem Spaziergang durch den exzellent gepflegten Park mit Kieswegen, Marmorstatuen und schmucken Pavillons. Fandorin stand vor einer Weide und durchlebte sämtliche Gefühle, die jeden von der Heimat getrennten Russen beim Anblick dieses lockenköpfigen Gewächses unweigerlich überkommen. Ähnliche Emotionen lösen Birke und Eberesche aus, doch die sieht man das ganze Jahr über, eine Weide aber erkennt der Stadtmensch nur im Frühjahr. Umso heftiger nagt dann die Nostalgie an der Seele.
    Wegen dieses von Dichtern mannigfach beschriebenen, im Grunde aber unangenehmen Gefühls sah Fandorin der um die Ecke biegenden Gruppe mit ein wenig feuchten Augen entgegen und lächelte sogar, als wolle er sich für seine alberne Sentimentalität entschuldigen.
    Sein Lächeln wurde offenbar als Unterwürfigkeit interpretiert. Die gesamte recht zahlreiche Gesellschaft verschiedenen Alters und Geschlechts musterte den Fremden mit kühler Verständnislosigkeit.
    »Ah«, sagte ein älterer Herr mit aufgeblasenen Wangen, ohne die Stimme im Geringsten zu senken, »das ist vermutlich der neue occupant des Flügels.«
    »Indeed«, bestätigte ein zweiter Gentleman, am Kragen erkennbar als Angehöriger des geistlichen Standes, ansonsten eine exakte Kopie des ersten, nur etwas kleiner als dieser und weniger von der Zeit gezeichnet.
    Aufgrund der Schilderungen von Miss Palmer erkannte Fandorin mühelos, wer hier wer war. Der ältere Bruder – Lord Daniel Lynn – war der Erbe des alten Grafen Berkeley. Der Pastor war der zweite Sohn, Hochwürden Matthew Lynn. Die Brünette mit der süffisanten Miene und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher