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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen
Autoren: Sandra Lüpkes
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beim Anblick des trostlosen, winzigen Zimmerchens vor Schreck erstarrt. Erst als Sanders sich beim Eintreten durch ein kurzes Räuspern bemerkbar machte, wandte der Mann den Kopf.
    »Ein toter Mann, sagten Sie eben?«, begann Sanders das Gespräch, setzte sich an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. »Entschuldigen Sie, wie ist Ihr Name?«
    »Erol Radzömir. Ja, ich habe gesehen in Fenster, dass er ist tot und nicht schlafen.«
    Sanders wies den aufgeregten Mann an, sich zu setzen, doch der blieb stehen, atmete immer noch schwer, weil er wohl gerannt war.
    »Es ist schlimm, sehr schlimm!«
    »Moment mal, Sie haben durch ein Fenster einen Toten liegen sehen? In einem Zimmer, im Bett, oder wie genau? Nun beruhigen Sie sich mal, Herr Radzömir, und dann erzählen Sie mir…«
    »Mein Arbeit auf die Wilhelmstraße und dann ich gucke in das Fenster von Geschäft und es ist ganz dunkel und ich denken, es ist eine Pullover oder Jacke, aber dann ich sehe, es ist Mann. Toter Mann!«
    Sanders stockte der Atem. »In einem Schaufenster?«
    »Ja, in Geschäft für Musik und Teller und Schiffe und so, alles alte Sachen. Sie wissen nicht? Geschäft von Kai Minnert. Sie wissen Kai Minnert?« Er drehte aufgebracht seine Wollmütze in den Händen.
    Ob er Kai Minnert kannte? Natürlich, jeder kannte ihn. Spätestens seit gestern Abend, wo er die ganze Veranstaltung mit seinen plattdeutschen Witzchen in Schwung gebracht hatte und anschließend noch Grünkohlkönig geworden war. »Sie haben eine Leiche in Kai Minnerts Schaufenster gefunden?«
    »Ja«, sagte der Mann nur und schaute zu Boden. Sanders griff zum Telefon. Er kannte die wichtigsten Nummern auf Juist auswendig. Und die des Arztes kannte er, seit er sich nachts nach einer Prügelei um die gebrochenen Nasenbeine kümmern musste, die sich zwei schlagkräftige Brüder gegenseitig verpasst hatten.
    »Sanders hier, Polizeidienststelle Juist, guten Morgen. Wir müssen uns dringend vor Kai Minnerts Laden treffen, bitte mit Krankenwagen. Dort soll eine bewusstlose Person im Schaufenster liegen.«
    Er streifte sich seinen Mantel über den Jogginganzug, kaum dass er den Hörer aufgelegt hatte. Kurz ärgerte er sich über seine nassen, shampoonierten Haare, dann setzte er sich die Wollmütze auf, die er sich nur für die Insel angeschafft hatte und nur bei ganz miesem Wetter über die Ohren zog. »Gehen wir, Herr Radzömir.« Sanders ahnte, der Doktor war mindestens genau so dienstuntauglich wie er selbst. Als er gestern das Fest verlassen hatte, saß der Arzt noch neben einem Langeooger Akkordeonspieler und sang aus vollem Halse.
    Ein verdammt ungünstiger Morgen, um bewusstlos oder was auch immer in einem Schaufenster herumzuliegen, fand Sanders.

Samstag, 20. März, 7.27 Uhr
    B ist du es wirklich?«
    Wencke Tydmers war ins Zimmer getreten und hatte versucht, so einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, als wenn alles genau so wäre wie jeden Morgen in der Auricher Mordkommission.
    Doch Greven und Britzke ließen ihre Kaffeebecher sinken und starrten sie mit offenen Mündern an.
    »Was ist los, Chefin? Karneval ist schon vorbei!«
    »Lasst mich doch in Ruhe«, fauchte sie und verschwand in ihrem Büro. Leider fielen ihre Schritte nicht einmal halb so energisch aus, wie sie es sich gewünscht hätte. Wencke war es nicht gewohnt, hochhackige Schuhe zu tragen, und der enge Rock ihres Kostüms ließ sie eher trippeln als schreiten. Vielleicht hätte sie ihren Jeans doch besser treu bleiben sollen, trotz des Termins mit dem niedersächsischen Polizeidirektor. Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, unpassend gekleidet zu sein.
    Sie holte aus dem Schrank einen Aktenordner hervor und überflog noch einmal im Stehen die Notizen, die sie sich für das Treffen heute gemacht hatte. Es ging um wichtige Personalumstrukturierungen im Weser-Ems- Bezirk. Natürlich sollte an allen Ecken und Enden gespart werden und das konnte sie auch hier in der Auricher Dienststelle ein oder zwei Kollegen kosten. Und das, obwohl sie seit Axel Sanders’ Versetzung nach Juist ohnehin schon eine Kraft weniger hatten. Entgegen ihren eigentlichen Gewohnheiten hatte Wencke Tydmers sich auf das Gespräch bestens vorbereitet. Sie hatte diesen Ordner angelegt, Argumente abgeheftet und eine Statistik über die Entwicklung von Gewaltverbrechen im Landkreis Aurich ausarbeiten lassen. Und ebendieses dunkelgraue Kostüm mit weißer Bluse und braunen Lederpumps gekauft. Alles nur, weil sie niemanden in ihrer Abteilung missen
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