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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen
Autoren: Sandra Lüpkes
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auf hundert Meter Entfernung ausmachen konnte. Als Axel Sanders nun direkt neben der Scheibe stand, da war er sich fast sicher, dass der Mann nicht mehr lebte.
    Minnert lag seltsam und unbequem auf der Auslage, sein rechter Arm umfasste einen riesigen, hölzernen Leuchtturm, die linke Hand lag nach hinten verdreht auf einer Reihe silberner Teestövchen. Minnerts Kopf war dem Fenster zugewandt, seine dunkelblaue Schirmmütze war ihm tief ins Gesicht gerutscht und bedeckte die Augen, die schlaffen Lippen berührten fast das Glas der Scheibe. Es schlug sich darauf kein Nebel nieder. Wäre da noch ein klein wenig Atmungsaktivität gewesen, dann hätte man es gesehen. Sanders war froh, als er sich umschaute und den Arzt mit dem Fahrrad herbeieilen sah. Es war dessen Aufgabe, einen genaueren Blick auf diesen leblosen Körper zu werfen, nicht seine. Nicht, dass er sich darum gerissen hätte.
    »Moin, Doktor«, sagte Sanders deshalb nur knapp und holte sein Handy hervor. »Wissen Sie zufällig die Nummer vom Büro der Reederei?«
    Der Arzt zog seine schwarze Tasche vom Gepäckträger und sah ihn verwundert an. »Ja, natürlich, 91010. Aber wofür brauchen Sie die?«
    »Wir müssen so schnell wie möglich in den Laden kommen, die Tür ist verschlossen, und ich dachte mir, bevor wir das Schloss aufbrechen, versuchen wir, Henner Wortreich zu erreichen. Er müsste jetzt im Dienst sein, das Schiff von Norddeich legt gleich an. Er hat sicher den Schlüssel. Der wird schneller hier sein, als wir beide die Tür knacken können.«
    Sanders sah das anerkennende Nicken des Arztes und wählte die Nummer. Es klingelte ewig. So ein Mist. Es kam gerade jetzt auf jede Minute an, sie brauchten den Schlüssel, Himmel, und die Herren im Hafenbüro tranken in aller Ruhe zuerst ihren Tee zu Ende, bevor sie ans Telefon gingen. »Verdammt noch mal…«, fluchte Sanders und er spürte den ersten leisen Stich hinter den Schläfen. Nun kamen die Kopfschmerzen, verdient hatte er sie, aber er konnte sie jetzt beim besten Willen nicht gebrauchen.
    Endlich ein Knacken in der Leitung, ein ausgiebiges Rascheln, als ob es sich jemand am anderen Ende erst gemütlich machte, bevor er sich meldete. »Reederei Frisia auf Juist, Wortreich?«
    »Herr Wortreich? Polizeidienststelle Juist, Sanders hier. Wir brauchen so schnell wie möglich den Schlüssel zu Kai Minnerts Laden. Können Sie uns da aushelfen?«
    »Guter Mann, wie stellen Sie sich das vor? Wir haben gerade Anreise. Wenn Sie noch eine halbe Stunde warten…«
    »Unmöglich. Es ist mehr als dringend. Haben Sie den Schlüssel dabei?«
    »Ja, natürlich, in meiner Jackentasche. Tun Sie mir den Gefallen und kommen Sie eben selbst mit dem Rad hierher, dann…«
    Sanders wusste, man sollte nahe Angehörige nicht am Telefon mit einer Schreckensbotschaft behelligen, doch in diesem Fall war Eile geboten, sie mussten unbedingt so schnell wie möglich in diesen Laden. »Herr Wortreich, kommen Sie bitte sofort in die Wilhelmstraße. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihrem Lebensgefährten etwas zugestoßen ist.«
    »Wie? Ich komme sofort!«, hörte er nur kurz, dann wurde das Gespräch unterbrochen, Sanders vermutete, dass am anderen Apparat aufgelegt worden war. Er blickte in Richtung Inselkirche und ahnte, dass er nicht weiter als bis fünfzig würde zählen müssen, bis sein Gesprächspartner dort mit dem Fahrrad auftauchte.
    »Es hat schon sein Gutes, wenn jeder jeden kennt«, murmelte der Arzt, während er in aller Seelenruhe die ersten Instrumente aus der Tasche holte und sich das Stethoskop um den Hals hängte. »Man weiß wenigstens genau, wen man zuerst benachrichtigen muss, wenn jemand das Zeitliche gesegnet hat.«
    »Sie meinen wirklich, er ist tot?«, fragte Sanders und wagte wieder einen Blick auf den verdrehten Körper. Natürlich war er tot, man konnte es sehen. Nicht auf den ersten Blick, aber wenn man genau hinsah.
    »Der Mann liegt in einem winzigen, abgeschlossenen Raum, wer weiß, wie lange schon. Viel Luft zum Atmen bleibt da wirklich nicht.« Der Arzt trat neben ihn und zog sich ein Paar gepuderte Handschuhe über. »Will lieber keine Fingerabdrücke hinterlassen«, sagte er knapp. Dann standen sie nebeneinander, schwiegen und schnauften ihren verkaterten Atem in die frische Morgenluft. Der kalte Wind kroch in Sanders Hosenbeine und erinnerte ihn daran, dass er einen unschicklichen Jogginganzug trug.
    Er war noch schneller gewesen, man hätte es nicht bis zur Fünfzig geschafft, als Henner
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