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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los
Autoren: Georges Simenon
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Schlages erlebt hat, nicht die kleinste Einzelheit entging ihr, weder die kurzgeschnittenen Fingernägel noch der Babyspeck und auch nicht Lilis Art, sich zu schminken.
    Gewisse Männer hätten Natascha gewiß schön gefunden, eine Vollreife Frucht, von üppigen Formen, und dabei nicht gesehen, was an ihr bereits verblüht war, und auch nicht das Bittere. Vor denen mußte sie den herben Zug verbergen, wie sie ihn jetzt beim Blick durch den Spiegel auf ihre Kollegin um den Mund hatte.
    »Dein erstes Mal?«
    »In einem Nachtlokal schon.«
    Die Fragen waren präzis, und Natascha würde den kleinsten Fehler sofort merken.
    »Und wo sonst?«
    »Ich habe Statisterie gemacht und ab und zu Chorgesang.«
    »Warum bist du hierher gekommen?«
    »Weil ich meine, das ist ’ne Chance.«
    »Hast du einen Kerl?«
    »Im Moment nicht.«
    Bestimmt ahnte, wußte Natascha, daß sie noch gar keinen gehabt hatte.
    »Mit wem lebst du zusammen?«
    »Mit niemand.«
    »Du bist immerhin mit dem Taxi hergekommen …«
    Denn es hatte losgeregnet, gegen Abend, ein prasselnder Frühlingsregen, und Lilis Schuhe waren trocken. Stimmte sogar, daß sie ein Taxi genommen hatte, weil sie sich erst in letzter Minute hatte loseisen können, nachdem sie Juliette herauf in ihr Zimmer geholt hatte, falls der Kommissar nach ihr rufen würde. Das kam nie vor. Er behauptete, seine Ausdauer als Kriminalpolizist habe er nur der Tatsache zu verdanken gehabt, daß er ratzen könne wie ein Murmeltier.
    »Laß lieber die Finger davon.«
    »Warum?«
    »Weil du hier nicht reinpaßt.«
    Und Natascha fügte wie einen Nachgedanken hinzu:
    »Du bist von derselben Art wie die Kleine gestern.«
    »Wollen Sie damit sagen, ich laufe Gefahr, auch umgebracht zu werden?«
    Aber es war schon vorbei. Die Tänzerin hatte keine Lust mehr zum Reden. Sie stand auf, streckte den halbnackten Körper und streifte seufzend wie einen Arbeitsanzug ein seltsames Abendkleid aus Silberlamé mit Rückenausschnitt über, das sie bei ihrem Fächertanz mit einer simplen Schlängelbewegung fallenlassen konnte.
    »Beeil dich. Wir müssen runter.«
    Die Kapelle spielte schon ein paar Minuten, und als sie herunterkamen, saßen ein paar Dutzend Gäste an den Tischen, und ein paar Herren lehnten an der Bar.
    »Setz dich an diesen Tisch hier, und wenn ein Gast fragt, was du trinken willst, bestellst du Champagner.«
    Louis flüsterte Natascha etwas zu, machte den Musikern ein Zeichen, die den Auftritt mit einem Trommelwirbel ankündigten. Die meisten Lampen erloschen. Ein Scheinwerfer tauchte die Bühne in bläuliches Licht. Mit einem knappen Ruck entfaltete die Tänzerin ihren Federfächer und trat vor.
    Doch Lili achtete nicht auf den Auftritt. Sofort hatte sie nämlich einen der Gäste an der Bar erkannt, und der hatte wiederum sie erkannt. In seinen Augen war zunächst Verblüffung und dann eine stumme Frage zu lesen gewesen. Schließlich machte er ihr Zeichen, er müsse sie unbedingt sprechen.
    Daran hatte Lili nicht gedacht. Außer Berna, dem Chef der Sonderbrigade, den sie hier wohl kaum leibhaftig antreffen würde, kannte sie nur einen Inspektor der Kriminalpolizei, den kleinen Lapointe, wie ihn Duclos nannte, und ausgerechnet den hatten sie heute abend hergeschickt, um das Nachtlokal zu überwachen.
    Er war übrigens gar nicht klein. Ganz im Gegenteil, ein hochaufgeschossener und dünner Schlaks, der sich von Zeit zu Zeit, wenn er mit einem Fall nicht fertig wurde, bei seinem Exkommissar Rat holen kam.
    »Er sieht aus wie ein Jungvermählter oder ein Chorknabe.«
    Der Chorknabe war übertrieben, aber der Jungvermählte paßte, denn Lapointe wirkte mit seinen fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig so frisch und unschuldig, daß ihm keiner den Kriminalinspektor ansah.
    Ein paar Bravorufe erschallten. Ein erneuter Trommelwirbel kündigte das Ende des Tanzes an, und Natascha, nackt hinter ihrem Fächer, trat rückwärts ab.
    »Jetzt du …«
    Da leuchteten Lilis Augen auf. Ihr war klar, daß Lapointe, wenn er sie auf der Bühne sah und ihre heisere und wehmütige Stimme hörte, weder Augen noch Ohren trauen würde.
    Die Nummer hatte sie oft geübt, und noch ein paar andere dazu. Im Rampenlicht, das von Blau auf Rot gewechselt hatte, war sie so wenig das junge Mädchen und so sehr die abgebrühte ›Sängerin von der Pigalle‹, die Nacht für Nacht zwischen zwei Flaschen Champagner lasziv dieselben Chansons zum besten gab, daß sogar Louis die Brauen hob und verblüfft einen Blick mit dem Barmixer
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