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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los
Autoren: Georges Simenon
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Lammkeule?«
    Die Sonne wurde stärker, und der Pfeifenrauch kräuselte in der ruhigen Luft sacht empor. Ein helles, noch ganz zartes Grün wagte sich an den Kastanienbäumen des Quais hervor.
    »Ich bleib’ nicht lange.«
    Sie schlüpfte in ihre blaue Kostümjacke, setzte ein rotes Hütchen auf und stieg mit dem Einkaufsnetz die Treppe hinab. Im Vorbeigehen klinkte sie die Tür zur Conciergenloge auf und rief zu Madame Arnaud hinein:
    »Bin gleich zurück …«
    Doch als sie eine halbe Stunde später wieder die Treppe hinaufstieg, verhielt sie ein Stockwerk tiefer und klingelte an einer Tür, die ein junges Mädchen aufmachte, wenig älter als sie.
    »Guten Morgen, Juliette. Ich brauch’ dich.«
    »Ja?«
    Aus dem Tonfall dieses ›Ja‹ hörte man heraus, daß so was offenbar häufig vorkam, Juliette aber daran gewöhnt war.
    »Hast du das schwarze Satinkleid noch? Macht es dir was aus, es mir zu leihen?«
    »Du weißt doch genau, daß ich viel schlanker bin als du.«
    »Genau. Es soll ja hauteng anliegen.«
    »Und wenn eine Naht platzt?«
    Lili kicherte:
    »Ich halte einfach die Luft an.«
    »Wann willst du’s haben?«
    »Heut nachmittag. Wahrscheinlich die ganze Nacht. Verrat niemand was. Es ist sehr wichtig.«
    Um drei Uhr nachmittags an diesem Tag saß Justin Duclos an seinem Fenster und las die Nachmittagszeitungen.
    »Ich gehe weg, für ’ne Stunde oder zwei«, verkündete sie. »Wenn du was brauchst, Juliette ist im Haus …«
    Das kam öfter vor. Juliette, die als Heimarbeitsschneiderin fast den ganzen Tag zu Hause verbrachte, wohnte ein Stockwerk tiefer, und der ehemalige Kommissar brauchte nur mit dem Stock auf den Fußboden zu klopfen, um ihr mitzuteilen, daß er was brauchte. Es kam selten vor, denn für ihn war es Ehrensache, sich trotz seiner Behinderung selber zu helfen.
    Mit dem schwarzen Seidenkleid in einer Pappschachtel hastete Lili zur Metro und stieg erst an der Place Pigalle wieder aus. Im hellen Tageslicht wirkte die Rue Pigalle heruntergekommen, und sie brauchte eine Weile, bis sie den schmalen Schaukasten mit den rotkarierten Vorhängen fand, über dem nachts in roten Neonbuchstaben ›Pélican‹ leuchtete.
    Ein paar Schritte weiter auf dem Trottoir war ein Mann stehengeblieben und interessierte sich ostentativ für ein Schaufenster mit Reizwäsche, und sie vermutete in ihm einen der Kriminalinspektoren von Kommissar Berna. Trotzdem drückte sie auf den Klingelknopf, die Tür ging auf. Drinnen war es düster. Rechts eine lange Bar, dann Lacktische um eine winzige Tanzfläche, und ganz hinten ein Podest für eine Viermannkapelle, mit dem Schriftzug ›Pélican‹ und einer Frauensilhouette in Schwarz auf dem Schlagzeug.
    »Ist da jemand?«
    Ihre Augen waren noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt. Jemand erhob sich hinten links, ein gedrungener Klotz von Mann in Hemdsärmeln, unrasiert und die paar schwarzen Strähnen über die Glatze gekämmt.
    »Sind Sie der Chef hier?« fragte sie forsch.
    Einen Zigarettenstummel zwischen den Lippen, sah er zu, wie sie näher kam, und in seinem Blick lag mitnichten ein Willkommen.
    »Was wollen Sie?«
    »Sind Sie Monsieur Louis?«
    »Soll ich den Ausweis vorzeigen?«
    »Entschuldigen Sie, aber ich hab gerade die Zeitung gelesen.«
    »Und?«
    »Die schreiben, daß Lucy Perrin verschwunden ist. Also gehe ich mal davon aus, sie singt heute abend nicht.«
    Er bot ihr keinen Stuhl an und setzte sich selber auch nicht. Die Hände in den Taschen, wirkte er wie ein mißtrauischer Bär.
    »Ich hab’ gemeint, ich könnte vielleicht einspringen.«
    »Als was?«
    »Als ›Sängerin von der Pigalle‹.«
    Er zuckte wie angewidert die Achseln, und der Blick, mit dem er ihr adrettes Jungmädchenkostüm abschätzte, sagte zur Genüge, was er sich dabei dachte.
    »Wollen Sie es mich nicht mal probieren lassen?«
    »Was probieren?«
    »Vorsingen. Das Kleid dafür hab’ ich dabei …«
    Er war offenbar mißtrauisch, denn er knipste plötzlich die nächstgelegenen Lampen an und musterte sie aufmerksam.
    »Sag mal, Kleine, wer hat dich geschickt?«
    »Niemand. Ich hab’s aus der Zeitung. Auf so eine Chance wart’ ich schon lange.«
    »Eine Chance, dich abmurksen zu lassen?«
    »Am Montmartre zu singen.«
    »Wer war’s?«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Wer hat dich hergeschickt?«
    »Niemand, ich sag’s Ihnen doch.«
    Man hätte meinen können, sie würde gleich anfangen zu weinen.
    »Lassen Sie mich doch bloß vorführen, daß ich es kann …«
    Sie hatte solchen Bammel,
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