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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los
Autoren: Georges Simenon
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und die Küche zu machen, Einkäufe im Viertel zu tätigen und das Mittagessen zu kochen.
    Schlepper tuckerten auf der Seine vorbei und zogen ihre langen Reihen von Kähnen unter der Brücke mit ihrer frisch gespülten Fahrbahn hindurch. Man hörte Kräne quietschen. Links sah man die Türme von Nôtre Dame, und weil die Touristensaison begonnen hatte, standen Omnibusse auf dem Vorplatz, und bisweilen erahnte man durch den Verkehrslärm hindurch die Megaphonstimme eines Fremdenführers.
    Wenn Justin Duclos sich hätte hinauslehnen können, hätte er sogar das große gelbliche Gebäude des Justizpalastes gesehen und die Fenster des Büros, hinter denen er zu seiner Zeit bei der Kriminalpolizei so viele Jahre gesessen hatte.
    Sie wohnten in einem alten Haus ohne Fahrstuhl. Vielleicht war das noch so eine Ablenkung, auf die Schritte im Treppenhaus zu horchen und zu raten, zu wem sie gehörten.
    Hatte Justin die seines ehemaligen Kollegen Berna erkannt, der jetzt Chef der Sonderbrigade war? Die Klingel über der Wohnungstür ertönte. Lili ging aufmachen.
    »Guten Morgen, meine Kleine.«
    »Guten Morgen, Monsieur Berna.«
    Er war dick. Er war riesig, so fett, daß er mit gespreizten Beinen watschelte und alle, die ihn nicht kannten, ihn für einen schlappen Fettsack hielten.
    »Wie geht’s, Justin?«
    »Blendend. Komm rein.«
    Auch er hielt sich an seine Riten. Er schob sich den Hut ins Genick, zog sich einen Sessel neben den Rollstuhl und setzte sich ohne ein Wort.
    Wenn Berna ihn so besuchen kam, leuchteten die Augen des alten Kommissars jedesmal erheitert auf, er paffte sein Pfeifchen und hütete sich wohlweislich, Fragen zu stellen.
    Die ersten Worte, nach einem mehr oder minder langen Schweigen, waren stets:
    »Ich bin ganz zufällig hier vorbeigekommen …«
    Und Justin dachte:
    »Lügner!«
    Denn er war lange genug am Quai des Orfèvres gewesen, um zu wissen, daß der Chef der Sonderbrigade nicht die Muße hatte, um zehn Uhr morgens spazierenzugehen.
    »Zeitung gelesen?«
    Das sah man gleich. Da, auf einem Sessel neben dem Rollstuhl, lagen sie ausgebreitet.
    »Sie schreiben nicht alles. Noch nicht …«
    Justin wartete und verkniff sich ein Lächeln.
    »Bestimmt schreiben sie, es ist ein Verrückter gewesen. Ein paar glauben das.«
    Lili ging im Schlafzimmer hin und her, doch hatte sie die Tür offengelassen, und ihr entging kein Wort.
    »Jetzt haben wir sogar noch eine.«
    »Auch Sängerin?«
    Duclos hatte endlich den Mund aufgemacht, etwas gefragt, und Émile Berna konnte nun triumphieren wie über einen kleinen Punktsieg.
    »Nicht bloß das.«
    »Was noch?«
    »Auch noch Sängerin im selben Lokal.«
    »Im ›Pélican‹?«
    Jetzt waren sie ernster geworden, und Lili im Schlafzimmer verhielt sich mucksmäuschenstill. Seit drei Tagen verbreiteten sich die Zeitungen ausführlich über die sogenannte ›Sängerin von der Pigalle‹. Offenbar eine Alltagstragödie, eins von den Dramen nach Mitternacht, die sich sozusagen alle glichen.
    Der ›Pélican‹ am unteren Ende der Rue Pigalle nahe der Rue Nôtre Dame de Lorette war ein kleines, unscheinbares Nachtlokal von der Art, das sich zwischen berühmtere Lokale quetscht und offenbar Nachtschwärmer einfangen soll, die dort enttäuscht worden sind oder nicht hingefunden haben.
    Auf ein paar Fotos in einem Schaukasten mit rotkarierten Vorhängen waren eine Fächertänzerin in polizeilich gerade noch erlaubter Aufmachung zu sehen und eine junge Frau in enganliegendem schwarzem Seidenkleid, angekündigt als ›Sängerin von der Pigalle‹.
    Berna hatte etliche dort kommen und gehen sehen, immer im hautengen Schwarzen, immer auch mit großen Rehaugen, die mit leicht rauchiger Stimme dieselben Couplets gesungen hatten. Der Künstlername im Fenster war für alle gleich geblieben, gehörte zum Lokal. Louis, der Wirt, war darauf verfallen, hatte ihn toll gefunden und als eine Art Markenzeichen beibehalten.
    Der ›Pélican‹ schloß erst in den frühen Morgenstunden, oft erst gegen vier oder fünf, denn die Gäste aus anderen Nachtlokalen blieben dort hängen, wenn diese eins nach dem anderen zumachten.
    Die vorvorige ›Sängerin von der Pigalle‹, Odette Lagrange mit Namen und in einer Pension im Stadtteil Montmartre wohnhaft, hatte sich drei Nächte zuvor bei Tagesanbruch auf den Heimweg gemacht. Louis war da gerade damit beschäftigt gewesen, die Läden vorzulegen. Sie hatte ihm gute Nacht gesagt. An der Ecke zur Rue Nôtre Dame de Lorette hatte sie sich von der
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