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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los
Autoren: Georges Simenon
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seinen Besuchen in der Nationalbibliothek las er sich quasi ein Universalwissen an, und so hielt er manchmal regelrechte Vorlesungen und wußte zum Beispiel von Südamerika so anschaulich zu berichten, als hätte er zehn Jahre dort gelebt.
    Der zweite Zufall ergab sich ebenso plötzlich wie der erste. Eines Abends auf dem Nachhauseweg sah er seine Tochter am Metroausgang auf ihn warten, und er merkte von weitem, daß etwas schiefgegangen war.
    »Ich will noch nicht heim«, bat sie.
    »Was hast du denn?«
    »Ich wollte heute nachmittag zu dir ins Büro. Ich wollte dir was ganz Wichtiges sagen.«
    »Was denn?«
    »Ist jetzt nebensächlich. Die haben mir gesagt …«
    »… daß ich da nicht mehr arbeite.«
    »Ja. Ich hab Monsieur Juramie sprechen wollen, und die haben mir gesagt, den gibt’s gar nicht.«
    Bleich, mit starrem Blick, stammelte sie:
    »Woher hast du das Geld?«
    »Komm. Gehn wir heim. Ich erzähl’s dir nach dem Essen, und deiner Mutter gleich mit.«
     
    Charles Perrin (der natürlich anders heißt) habe ich in Antibes an der Côte d’Azur kennengelernt, wo er sich eine Leihbücherei gekauft hat und den größten Teil seiner Tage in einem Sessel hinter dem Ladentisch mit Lesen verbringt. Anvertraut hat er sich mir erst nach ein paar Monaten, als ich Stammkunde war.
    »Als ich alles gebeichtet hatte«, schloß er seinen Bericht, »hat meine Frau gesagt:
    ›… also hast du doch keine Gehaltserhöhung gekriegt! Ich hätt’ es wissen müssen!‹«
    Er wurde wieder so schüchtern und unterwürfig wie früher.
    »Meine Tochter hat geheiratet. Zu mir ins Büro war sie gegangen, um meinen Segen zu holen. Meine Frau führt jetzt ein ziemlich mondänes Leben, empfängt fast jeden Nachmittag zum Tee. Ich kann nicht klagen, ich sehne mich bloß nach der Nationalbibliothek, wo nicht alle paar Minuten einer kommt und stört, weil er ein Buch will.«
    Und dann sagte er noch, mit einem Blick auf das blaue Meer vor den Fenstern:
    »Die Rue St. Antoine fehlt mir auch. Hätte ich doch bloß nur ein kleines Los gezogen, so zehn- oder zwanzigtausend Francs …«
     
    Lakeville (Connecticut), 11. November 1953

Die Sängerin von der Pigalle
1
    Die Concierge Madame Arnaud, so klapperdürr, daß der Kittel an ihr stets wie auf einem Kleiderbügel hing, riß das letzte Fenster zum Lüften auf, wandte sich ins Zimmer zurück und musterte wie jeden Morgen die Wohnung mit ihren huschenden Mausaugen, ob auch bestimmt nichts mehr zu tun sei.
    »Brauchen Sie mich noch, Mademoiselle Lili?«
    Folglich war es bereits zehn, und sie betrachtete die tägliche Aushilfe im Haushalt des jungen Mädchens als beendet.
    Es war April, und die Fenster standen offen, doch die Frühlingssonne war immer noch kraftlos, der Himmel blaßblau wie auf einem Aquarell, mit einem leichten Dunstschleier, der von der Seine aufstieg.
    »Ich hab’ nichts mehr für Sie, Madame Arnaud. Danke schön.«
    Und die Concierge, die gern die gleichen Bewegungen machte und zu bestimmten Tageszeiten gern das gleiche sagte, als bringe dieser Rhythmus der Routine Reiz in ihren eintönigen Alltag, wandte sich befriedigt an Justin Duclos.
    »Haben Sie’s bequem? Haben Sie Ihre Pfeife, Ihren Tabak, Ihre Streichhölzer, Ihre Zeitung?«
    Der Behinderte nickte dankbar aus seinem Rollstuhl mit den großen Gummirädern zu ihr hinüber. Erledigt. Jetzt brauchte sie nur wieder in ihre Conciergenloge hinunterzusteigen, wo in der Ecke auf dem Herd schon etwas köchelte.
    Vielleicht weil Duclos schon seit Jahren die Wohnung nicht mehr verließ, gab es noch etliche Tagesgewohnheiten mehr, die seinen Alltag ausfüllten, wie etwa die Begrüßung durch den Bouquinisten.
    Die Fenster gingen auf den Quai de la Tournelle hinaus, eine der Straßen an der Seine, wo die Bouquinisten auf den Ufermauern alte Bücher und Stiche zum Verkauf auslegten.
    Einer hatte seinen Standort genau gegenüber, ein ganz alter Mann mit schlohweißem Haar, der jeden Morgen genau um zehn zum Fenster hochblickte. Von da unten konnte er nur Duclos’ obere Gesichtshälfte sehen, aber das war ihm genug, und er grüßte gravitätisch hinauf, zog dann mit geübter Handbewegung eine silberne Taschenuhr und stellte sie nach.
    Es hatte vor allem damit zu tun, daß man zu zweit sein mußte, um den alten Herrn anzukleiden, daß die Concierge jeden Morgen heraufkam und Lili half. Auch sollte das Wohnzimmer, wo er sich den ganzen Tag aufhalten mußte, nicht zu lange unaufgeräumt bleiben.
    Dann waren noch die Schlafzimmer
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