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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los
Autoren: Georges Simenon
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er würde sie rausschmeißen, daß sie sich umblickte, die erste Tür ins Auge faßte, zu einer Küche, die kalt und offenbar nur nachts in Betrieb war und in der sich kein Mensch aufhielt.
    »Nur eine Minute. Damit ich mich umziehen kann.«
    Die brauchte sie nicht mal. Fast, als hätte sie die kleinsten Bewegungen geprobt. Das schwarze Kleid war so eng, daß sie das Kostüm ausziehen mußte, und sie veränderte mit einer raschen Handbewegung ihre Frisur, schminkte sich mit der anderen Hand die Lippen und zog mit einem schwarzen Stift die Augenbrauen nach.
    Als sie wieder im Saal erschien, ging sie stracks zum Klavier, ohne Louis Zeit für einen Einwand zu lassen.
    »Ich kenne Ihre Lieder. Daheim hab’ ich Schallplatten davon …«
    Er hörte zu, wie sie sang, überrascht, verblüfft, begann sie zu umkreisen, als wolle er sie von allen Seiten begutachten. Schritte auf einer Treppe, eine Tür ging auf, eine dicke Frau im Negligé blieb unter der Tür stehen und schaute gleichfalls zu.
    Als das erste Couplet zu Ende war, war es die Frau, die Louis mit einem fast genauso mißtrauischen Blick wie dem seinen fragte:
    »Wo hast du denn die aufgetan?«
    »Die hab’ ich nicht aufgetan. Die ist von selber gekommen und wollte vorsingen.«
    »Wer hat sie geschickt?«
    »Niemand!« ging Lili mit Nachdruck dazwischen. »Ich schwör’s Ihnen, niemand hat mich geschickt. Ich muß mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich will in den Varietés Karriere machen. Ich hab’s aus der Zeitung …«
    Der Mann und die Frau sahen einander an. Die Frau zuckte die Achseln, wandte sich zur Treppe und brummte:
    »Mach, was du willst. Mir ist nicht wohl dabei.«
    »Sie lassen mich’s heute abend probieren, ja, Monsieur Louis?«
    Unschlüssig spähte er durch den Vorhang nach draußen. Bestimmt sah er den Umriß des Kriminalinspektors, den er wohl kannte. Vielleicht war er drauf und dran, ihn um Rat zu fragen.
    Lili hatte wieder angefangen zu singen, mit der richtigen Stimme, der leicht kratzigen, rauchigen Stimme der leichten Mädchen.
    »Schluß jetzt!« befahl er schließlich.
    »Heißt das ja?«
    »Hast du ’nen Freund?«
    »Im Moment nicht.«
    »Kennst du Émile?«
    »Hängt davon ab, welchen Émile. Ich habe einen Vetter in der Provinz, der so heißt. Kann ich heut abend wiederkommen?«
    Sie ging sich umziehen, ohne die Antwort abzuwarten. Als sie wieder herauskam, hatte sie die Schachtel mit dem schwarzen Kleid in der Hand.
    »Das kann ich doch genausogut hierlassen. Wo soll ich es hintun?«
    Er nahm ihr die Schachtel ab und legte sie hinter den Tresen, mit immer noch unentschlossener Miene. Auf der Heimfahrt stieg sie in der Metro fünfmal um, weil sie fürchtete, dem Inspektor könnte es eingefallen sein, sie zu beschatten.
    »Er hat nicht gerufen?«
    »Nein. Und mein Kleid?«
    »Hab’ ich dort gelassen. Ich brauch’s heute nacht noch. Kannst beruhigt sein: keine einzige Naht geplatzt.«
2
    Beim Schminken schwieg Natascha beharrlich die ganze Zeit, musterte aber Lili unablässig im Spiegel.
    Natascha war nur der Künstlername, mit dem sie im Programm angekündigt wurde, und sie war auch keine Russin, sondern stammte aus dem Midi, aus Marseille oder Nizza. Lili musterte sie ebenfalls, nicht ganz so auffällig, mit kleinen verstohlenen Blicken.
    Beide waren sie eine dunkle Treppe zum ersten Stock hinaufgestiegen, zum Zimmer von Louis und seiner Frau, so schmucklos und bieder, daß es jedem beliebigen Rentnerehepaar hätte gehören können, mit kitschigen Nippes auf den Möbeln und Fotografien an den Wänden.
    Unten waren die Musiker gekommen und stimmten ihre Instrumente.
    Louis, den gedrungenen Körper in einen Smoking gezwängt, das Gesicht glatt rasiert, aber trotzdem am Kinn blau verschattet, stand nahe der Bar bereit, die Gäste zu begrüßen, während sich seine Frau in der Küche ausgebreitet hatte.
    Außer den beiden gab es noch einen Barmixer, der aussah und redete wie ein Italiener, und einen steinalten Kellner von so blassem Teint, daß man meinte, das Blut sei ihm unter der Haut allmählich zu Wasser geworden.
    Louis hatte sie einander vorgestellt.
    »Natascha, sie arbeitet hier schon über ein Jahr. Lili, die Neue. Geht euch umziehen, ihr zwei.«
    Und er hatte Lili den Karton hingehalten, in dem ihr Kleid war.
    Er schien nicht begeistert, sie verpflichtet zu haben, und beglotzte sie immer noch mit mißtrauischen Augen.
    Natascha wiederum musterte sie mit dem Blick einer Frau, und zwar einer, die schon Frauen jeden
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