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Das große Heft

Das große Heft

Titel: Das große Heft
Autoren: Agota Kristof
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Unsere kleine Schwester. 
    Großmutter sagt:
    - Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie sollen die Toten in Ruhe lassen. Kommen Sie in die Küche und waschen Sie sich.
    Vater antwortet nicht. Er betrachtet die Skelette. Sein Gesicht ist naß von Schweiß, Tränen und Regen. Er steigt mühsam aus dem Loch und geht weg, ohne sich umzudrehen, Hände und Kleider voller Schlamm. Wir fragen Großmutter: 
    - Was tun wir? 
    Sie sagt:
    - Das Loch wieder zumachen. Was könnten wir sonst tun?
Wir sagen:
- Gehen Sie ins Warme, Großmutter. Wir kümmern uns um alles.
Sie geht ins Haus.
    Mit Hilfe einer Decke schaffen wir die Skelette in die Dachkammer, wir legen die einzelnen Knochen auf Stroh, um sie trocknen zu lassen. Dann steigen wir wieder hinunter und schaufeln das Loch zu, in dem niemand mehr ist.
    Später polieren wir monatelang den Schädel und die Knochen unserer Mutter und des Babys, dann setzen wir die Skelette sorgfältig wieder zusammen, indem wir jeden Knochen an dünnen Drähten befestigen. Als unsere Arbeit fertig ist, hängen wir das Skelett unserer Mutter an einen Balken der Dachkammer und das des Babys an ihren Hals.

Unser Vater kommt zurück
    Wir sehen unsern Vater erst mehrere Jahre später wieder.
    Inzwischen hatte Großmutter einen weiteren Anfall, und wir haben ihr geholfen zu sterben, wie sie es von uns verlangt hatte. Jetzt liegt sie im selben Grab wie Großvater. Bevor man das Grab öffnete, haben wir den Schatz geborgen und ihn unter der Bank vor unserm Fenster versteckt, wo sich noch immer das Gewehr, die Patronen, die Handgranaten befinden. Vater kommt eines Abends, er fragt: 
    - Wo ist eure Großmutter? 
    - Sie ist tot.
    - Ihr lebt allein? Wie kommt ihr zurecht?
- Sehr gut, Vater.
Er sagt:
- Ich bin heimlich hergekommen. Ihr müßt mir helfen.
Wir sagen:
    - Seit Jahren haben Sie nichts von sich hören lassen. 
    Er zeigt uns seine Hände. Er hat keine Fingernägel mehr. Sie sind an der Wurzel ausgerissen worden:
    - Ich komme aus dem Gefängnis. Man hat mich gefoltert.
- Warum?
    - Ich weiß nicht. Wegen nichts. Ich bin politisch verdächtig. Ich kann meinen Beruf nicht ausüben. Ich werde ständig bewacht. Man durchsucht regelmäßig meine Wohnung. Für mich ist es unmöglich, in diesem Land zu leben. 
    Wir sagen:
    - Sie wollen über die Grenze. 
    Er sagt:
    - Ja. Ihr lebt doch hier, bestimmt kennt ihr, wißt ihr...
    - Ja; wir kennen, wir wissen. Die Grenze ist unpassierbar.
    Vater senkt den Kopf, betrachtet einen Augenblick seine Hände, sagt dann:
    - Es gibt bestimmt eine Lücke. Es gibt bestimmt eine Möglichkeit, durchzukommen.
    - Wenn Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen, ja.
    - Lieber sterbe ich, als daß ich hierbleibe.
    - Sie müssen in Kenntnis der Dinge entscheiden, Vater.
Er sagt:
- Ich höre.
Wir erklären:
    - Die erste Schwierigkeit ist, bis zum ersten Stacheldraht zu kommen, ohne einer Patrouille zu begegnen, ohne von einem Wachtturm aus gesehen zu werden. Das ist machbar. Wir kennen die Uhrzeit der Patrouillen und den Standort der Wachttürme. Die Barriere ist ein Meter fünfzig hoch und einen Meter breit. Man braucht zwei Bretter. Eines, um auf die Barriere zu klettern, das andere legt man oben drauf, um stehen zu können. Wenn Sie das Gleichgewicht verlieren, fallen Sie in die Drähte und können nicht mehr raus. 
    Vater sagt:
    - Ich werde das Gleichgewicht nicht verlieren. 
    Wir fahren fort:
    - Man muß die beiden Bretter einsammeln, um auf die gleiche Weise über die andere Barriere zu steigen, die sich sieben Meter weiter weg befindet. 
    Vater lacht: 
    - Ein Kinderspiel.
    - Ja, aber die Strecke zwischen den beiden Barrieren ist vermint.
Vater wird blaß.
- Dann ist es unmöglich.
    - Nein. Eine Glücksfrage. Die Minen sind im Zickzack gelegt, wie ein W. Wenn man einer geraden Linie folgt, riskiert man nur, auf eine einzige Mine zu treten. Wenn man große Schritte macht, stehen die Chancen sieben zu eins, ihr zu entgehen.
    Vater überlegt einen Augenblick, dann sagt er:
- Ich gehe dieses Risiko ein.
Wir sagen:
    - In diesem Fall wollen wir Ihnen gern helfen. Wir begleiten Sie bis zur ersten Barriere. 
    Vater sagt:
    - Einverstanden. Ich danke euch. Ihr habt nicht zufällig etwas zu essen?
    Wir bieten ihm Brot und Ziegenkäse an. Wir bieten ihm auch Wein aus dem ehemaligen Weinberg von Großmutter an. Wir geben ein paar Tropfen des Schlafmittels in sein Glas, das Großmutter so gut aus Pflanzen herstellen konnte.
    Wir führen Vater in unser Zimmer, wir sagen: 
    - Gute Nacht, Vater.
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