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Das große Heft

Das große Heft

Titel: Das große Heft
Autoren: Agota Kristof
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verstanden?
- Ja, Großmutter, wir haben verstanden. Aber wir wußten es schon.
- Was wußtet ihr schon?
Wir antworten flüsternd:
    - Daß sich Ihr Schatz unter dem Kreuz von Großvaters Grab befindet.
    Großmutter schweigt einen Augenblick, dann sagt sie: 
    - Ich hätte es mir denken können. Wißt ihr es schon lange?
    - Sehr lange, Großmutter. Seit wir gesehen haben, wie Sie Großvaters Grab pflegen.
    Großmutter atmet sehr heftig:
    - Es nützt nichts, sich aufzuregen. Jedenfalls ist alles für euch. Jetzt seid ihr intelligent genug, um zu wissen, was
ihr damit anfangt.
Wir sagen:
    - Im Augenblick kann man nicht viel damit anfangen. 
    Großmutter sagt:
    - Nein. Ihr habt recht. Man muß warten. Könnt ihr warten?
- Ja, Großmutter.
    Wir schweigen alle drei einen Augenblick, dann sagt Großmutter:
    - Das ist noch nicht alles. Wenn ich einen neuen Anfall habe, sollt ihr wissen, daß ich euer Bad nicht will, auch nicht eure Hose und eure Windeln.
    Sie steht auf, kramt auf dem Regal zwischen ihren Einmachgläsern. Sie kommt mit einer kleinen blauen Flasche zurück:
    - Statt euren dreckigen Medikamenten werdet ihr mir den Inhalt dieser Flasche in meine erste Tasse Milch gießen.
Wir antworten nicht. Sie schreit:
- Habt ihr verstanden, Hundesöhne?
Wir antworten nicht. Sie sagt:
    - Vielleicht habt ihr Angst vor der Autopsie, kleine Scheißer? Es wird keine Autopsie geben. Man sucht nicht in den Krümeln, wenn eine alte Frau an einem zweiten Anfall stirbt. Wir sagen:
    - Wir haben keine Angst vor der Autopsie, Großmutter. Wir meinen nur, daß Sie sich ein zweites Mal erholen können.
    - Nein. Ich werde mich nicht mehr erholen. Ich weiß es. Also muß man so schnell wie möglich Schluß machen. 
    Wir sagen nichts. Großmutter fängt zu weinen an: 
    - Ihr wißt nicht, was es heißt, gelähmt zu sein. Alles zu sehen, alles zu hören und sich nicht rühren zu können. Wenn ihr nicht mal imstand seid, mir diesen kleinen Gefallen zu tun, dann seid ihr undankbare Schlangen, die ich am Busen genährt habe. 
    Wir sagen:
    - Hören Sie auf zu weinen, Großmutter. Wir werden es tun; wenn Sie es wirklich wollen, werden wir es tun.

Unser Vater
    Als unser Vater ankommt, arbeiten wir gerade alle drei in der Küche, weil es draußen regnet.
    Vater bleibt vor der Tür stehen, die Arme verschränkt, die Beine gespreizt. Er fragt:
- Wo ist meine Frau?
Großmutter feixt:
    - Sieh an! Sie hatte tatsächlich einen Mann. 
    Vater sagt:
    - Ja, ich bin der Mann Ihrer Tochter. Und das sind meine Söhne.
Er schaut uns an, er fügt hinzu:
- Ihr seid sehr gewachsen. Aber ihr habt euch nicht verändert.
Großmutter sagt:
- Meine Tochter, Ihre Frau, hat mir die Kinder anvertraut.
Vater sagt:
- Sie hätte sie besser jemand anderm anvertraut. Wo ist sie? Man hat mir gesagt, daß sie ins Ausland gegangen ist.
Stimmt das?
Großmutter sagt:
    - Das ist lange her. Wo waren Sie bis jetzt? 
    Vater sagt:
    - Ich war Kriegsgefangener. Und jetzt will ich meine Frau wiederfinden. Versuchen Sie nicht, irgend was vor mir zu verheimlichen, alte Hexe. 
    Großmutter sagt:
    - Mir gefällt es sehr, wie Sie sich dafür bedanken, was ich für Ihre Kinder getan habe.
Vater schreit:
    - Ich scheiß drauf! Wo ist meine Frau? 
    Großmutter sagt:
    - Sie scheißen drauf? Auf Ihre Kinder und mich? Na gut, ich werde Ihnen zeigen, wo Ihre Frau ist!
    Großmutter geht in den Garten, wir folgen ihr. Mit ihrem Stock deutet sie auf das Blumenbeet, das wir auf dem Grab unserer Mutter angelegt haben:
    - Da ist sie, Ihre Frau. Unter der Erde.
Vater fragt:
- Tot? Woran? Wann?
Großmutter sagt:
    - Tot. Eine Granate. Ein paar Tage vor Kriegsende. 
    Vater sagt:
    - Es ist verboten, Leute einfach irgendwo zu beerdigen. 
    Großmutter sagt:
    - Man hat sie dort beerdigt, wo sie gestorben ist. Und nicht irgendwo. Es ist mein Garten. Es war auch ihr Garten, als sie klein war.
    Vater betrachtet die nassen Blumen, er sagt:
- Ich will sie sehen.
Großmutter sagt:
- Das sollten Sie nicht. Man soll die Toten nicht stören.
Vater sagt:
- Jedenfalls muß man sie auf einem Friedhof beerdigen. So ist das Gesetz. Bringen Sie mir eine Schaufel.
Großmutter zuckt die Achseln.
- Bringt ihm eine Schaufel.
    Im Regen schauen wir zu, wie Vater unser kleines Blumenbeet zerstört, wir sehen ihm beim Graben zu. Er gelangt zu den Decken, er schiebt sie weg. Ein großes Skelett liegt da, mit einem ganz kleinen Skelett an seiner Brust. Vater fragt: 
    - Was ist das, das Ding auf ihr?
    Wir sagen:
    - Ein Baby.
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