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Das große Heft

Das große Heft

Titel: Das große Heft
Autoren: Agota Kristof
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nicht. Wenn man ihn ruft, kommt er nie. Er vergnügt sich damit, uns zu quälen. Ich rufe ihn seit Jahren, und er übersieht mich. 
    Wir fragen: 
    - Möchten Sie wirklich sterben?
    - Was könnte ich mir anderes wünschen? Wenn ihr etwas für mich tun wollt, zündet das Haus an. Ich will nicht, daß man mich so findet. 
    Wir sagen: 
    - Aber Sie werden furchtbar leiden.
    - Kümmert euch nicht darum. Zündet das Haus an, das ist alles. Wenn ihr dazu fähig seid.
    - Ja, wir sind dazu fähig. Sie können auf uns zählen. 
    Wir schneiden ihr mit dem Rasiermesser die Kehle durch, dann pumpen wir Benzin aus einem Armeefahrzeug. Wir begießen die beiden Körper und die Wände der Hütte mit Benzin. Wir zünden es an und gehen heim. Am Morgen sagt Großmutter zu uns:
    - Das Haus der Nachbarin ist abgebrannt. Sie waren drin, ihre Tochter und sie. Die Tochter hat wohl etwas auf dem Herd stehen lassen, verrückt wie sie ist. Wir gehen noch mal hin, um die Hühner und die Kaninchen zu holen, aber andere Nachbarn haben sie schon in der Nacht mitgenommen.

Das Ende des Kriegs
    Wochenlang sehen wir vor Großmutters Haus die siegreiche Armee der neuen Fremden vorbeiziehen, die jetzt die Befreiungsarmee heißt.
    Die Panzer, die Kanonen, die Kampfwagen, die Lastwagen fahren Tag und Nacht über die Grenze. Die Front verlagert sich immer mehr in das Innere des Nachbarlandes.
    In umgekehrter Richtung kommt ein anderer Zug: die Kriegsgefangenen, die Besiegten. Unter ihnen viele Männer aus unserm Land. Sie tragen noch ihre Uniform, aber sie haben keine Waffen und keine Tressen mehr. Sie gehen zu Fuß, mit gesenktem Kopf, zum Bahnhof, wo man sie in Waggons verfrachtet. Wohin und für wie lange, weiß niemand.
    Großmutter sagt, daß man sie weit weg bringt, in ein kaltes, unbewohntes Land, wo sie so hart arbeiten müssen, daß keiner von ihnen zurückkommen wird. Sie werden alle sterben, an Kälte, Erschöpfung, Hunger und allen möglichen Krankheiten.
    Einen Monat, nachdem unser Land befreit worden ist, ist der Krieg überall zu Ende, und die Befreier richten sich bei uns ein, für immer, so heißt es. Also bitten wir Großmutter, uns ihre Sprache beizubringen. Sie sagt: 
    - Wie soll ich sie euch beibringen? Ich bin keine Lehrerin. 
    Wir sagen:
    - Es ist einfach, Großmutter. Sie brauchen bloß den ganzen Tag in dieser Sprache mit uns zu reden, und am Ende verstehen wir sie.
    Bald haben wir genug gelernt, um zwischen den Einwohnern und den Befreiern zu dolmetschen. Wir nutzen es aus, um mit den Produkten, die die Armee in Hülle und Fülle besitzt, Handel zu treiben: Zigaretten, Tabak, Schokolade, die wir gegen das eintauschen, was die Zivilisten besitzen: Wein, Schnaps, Obst.
    Das Geld ist nichts mehr wert; alle Welt tauscht. Die Mädchen schlafen mit den Soldaten im Tausch gegen Seidenstrümpfe, Schmuck, Parfüm, Uhren und andere Dinge, die die Militärs in den Städten an sich genommen haben, durch die sie gekommen sind. Großmutter geht nicht mehr mit ihrem Schubkarren auf den Markt. Die gutgekleideten Damen kommen vielmehr zu Großmutter und flehen sie an, ein Huhn oder eine Wurst gegen einen Ring oder Ohrringe einzutauschen.
    Man verteilt Lebensmittelmarken. Die Leute stehen Schlange vor der Metzgerei und der Bäckerei, ab vier Uhr morgens. Die andern Geschäfte bleiben geschlossen, mangels Ware. Allen fehlt es an allem.
    Großmutter und uns fehlt es an nichts.
    Später haben wir wieder eine eigene Armee und eine eigene Regierung, aber unsere Befreier lenken unsere Armee und unsere Regierung. Ihre Fahne weht auf allen öffentlichen Gebäuden. Das Foto ihres Führers hängt überall. Sie bringen uns ihre Lieder, ihre Tänze bei, sie zeigen uns ihre Filme in unseren Kinos. In den Schulen ist die Sprache unserer Befreier Pflichtfach, die anderen Fremdsprachen sind verboten.
    Gegen unsere Befreier oder gegen unsere neue Regierung ist keine Kritik, kein Scherz erlaubt. Auf eine bloße Denunziation hin wirft man jeden ins Gefängnis, ohne Prozeß, ohne Urteil. Männer und Frauen verschwinden, ohne daß man weiß, warum, und ihre Familien hören nie mehr etwas von ihnen.
    Die Grenze ist neu errichtet. Sie ist jetzt unpassierbar. Unser Land ist mit Stacheldraht umgeben; wir sind völlig abgeschnitten von der übrigen Welt.

Die Schule fängt wieder an
    Im Herbst gehen alle Kinder wieder in die Schule, außer uns.
    Wir sagen zu Großmutter:
- Großmutter, wir wollen nie mehr in die Schule gehen.
Sie sagt:
    - Das hoffe ich. Ich brauche
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