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Das große Heft

Das große Heft

Titel: Das große Heft
Autoren: Agota Kristof
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Schlafen Sie gut. Wir werden Sie morgen wecken.
    Wir legen uns auf die Eckbank in der Küche.

Die Trennung
    Am nächsten Morgen stehen wir sehr früh auf. Wir vergewissern uns, daß Vater tief schläft. Wir bereiten vier Bretter vor.
    Wir graben Großmutters Schatz aus: Gold- und Silberstücke, viel Schmuck. Wir stecken den größten Teil davon in einen Stoffbeutel. Wir nehmen auch jeder eine Handgranate mit, für den Fall, daß wir von einer Patrouille überrascht werden. Wenn wir sie beseitigen, können wir Zeit gewinnen.
    Wir machen einen Erkundungsgang an die Grenze, um die beste Stelle auszukundschaften: einen toten Winkel zwischen zwei Wachttürmen. Dort, am Fuß eines großen Baums, verstecken wir den Stoffbeutel und zwei Bretter.
    Wir gehen zurück, wir essen. Später bringen wir unserm Vater das Frühstück. Wir müssen ihn schütteln, damit er aufwacht. Er reibt sich die Augen und sagt:
    - Schon lange habe ich nicht mehr so gut geschlafen. 
    Wir stellen das Tablett auf seine Knie. Er sagt: 
    - Was für ein Festmahl! Milch, Kaffee, Eier, Schinken, Butter, Marmelade! Solche Dinge sind in der Großen Stadt nicht zu kriegen. Wie macht ihr das?
    - Wir arbeiten. Essen Sie, Vater. Wir werden keine Zeit haben, Ihnen eine weitere Mahlzeit anzubieten, bevor Sie weggehen.
Er fragt:
- Ist es heute abend?
Wir sagen:
- Nein, sofort. Sobald Sie fertig sind.
Er sagt:
    - Seid ihr verrückt? Ich weigere mich, am hellichten Tag über diese Scheißgrenze zu gehen! Man würde uns sehen.
Wir sagen:
    - Auch wir müssen sehen können, Vater. Nur Dummköpfe versuchen, nachts über die Grenze zu gehen. Nachts setzt man die Patrouillen viermal häufiger ein, und die Zone wird ständig von den Scheinwerfern bestrichen. Gegen elf Uhr vormittags dagegen läßt die Überwachung nach. Die Grenzposten meinen, daß niemand so verrückt ist, in diesem Augenblick rüberzugehen. 
    Vater sagt:
    - Ihr habt sicherlich recht. Ich verlasse mich auf euch. 
    Wir fragen:
    - Sie erlauben, daß wir Ihre Taschen durchsuchen, während Sie essen?
- Meine Taschen? Warum?
    - Man darf Sie nicht identifizieren können. Wenn Ihnen etwas zustößt und wenn man erfährt, daß Sie unser Vater sind, würde man uns der Mittäterschaft bezichtigen. 
    Vater sagt: 
    - Ihr denkt an alles.
    - Wir müssen an unsere Sicherheit denken.
    Wir durchsuchen seine Kleider. Wir nehmen seine Papiere, seinen Personalausweis, sein Adreßbuch, eine Eisenbahnfahrkarte, Rechnungen und ein Foto unserer Mutter. Wir verbrennen alles im Küchenherd, außer dem Foto.
    Um elf Uhr gehen wir los. Jeder von uns trägt ein Brett. Unser Vater trägt nichts. Wir bitten ihn nur, uns so leise wie möglich zu folgen.
    Wir kommen an die Grenze. Wir sagen unserm Vater, er solle sich hinter den großen Baum legen und sich nicht mehr rühren.
    Bald kommt, wenige Meter von uns entfernt, eine Patrouille von zwei Männern vorbei. Wir hören sie sprechen:
    - Ich frage mich, was es heute zu essen gibt. 
    - Dieselbe Scheiße wie sonst.
    - Es gibt Scheiße und Scheiße. Gestern war es zum Kotzen, aber manchmal ist es gut.
    - Gut? Das würdest du nicht sagen, wenn du die Suppe meiner Mutter gegessen hättest.
    - Ich habe nie die Suppe deiner Mutter gegessen. Ich habe nie eine Mutter gehabt. Ich habe immer nur Scheiße gegessen. In der Armee esse ich wenigstens hin und wieder gut.
    Die Patrouille entfernt sich. Wir sagen:
    - Los, Vater. Wir haben zwanzig Minuten, bis die nächste Patrouille kommt.
    Vater nimmt die beiden Bretter unter die Arme, er geht vor, er legt eines der Bretter an die Barriere, er klettert. Wir legen uns bäuchlings hinter den großen Baum, wir halten uns mit den Händen die Ohren zu, wir machen den Mund auf. Es gibt eine Explosion.
    Wir rennen mit den beiden andern Brettern und dem Stoffbeutel zum Stacheldraht.
    Unser Vater liegt an der zweiten Barriere.
    Ja, es gibt eine Möglichkeit, über die Grenze zu gehen: Wenn man jemand vor sich hergehen läßt.
    Den Stoffbeutel packend, in die Fußspuren tretend, dann über den leblosen Körper steigend, geht einer von uns hinüber in das andere Land.
    Derjenige, der zurückbleibt, kehrt in Großmutters Haus zurück.

Agota Kristof wurde in Ungarn geboren und lebt in der Schweiz. Ihr erster Roman Das große Heft, ist in französischer Sprache geschrieben und bislang in sieben Sprachen übersetzt worden. Die Autorin erhielt dafür den Prix Européen de l'Association des Ecrivains de la Langue Française für nicht muttersprachige
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