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Das grobmaschige Netz - Roman

Das grobmaschige Netz - Roman

Titel: Das grobmaschige Netz - Roman
Autoren: H kan Nesser
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ihr diese endgültige Erniedrigung zu ersparen.
    Und ihm vielleicht auch?
    Ja, ihm vielleicht auch.
    Natürlich half es alles nichts. Es war nur der Wunsch, von der Aufgabe befreit zu werden, der immer in ihm aufstieg, wenn er an einer Tür klingelte und einer Ehefrau mitteilen musste, dass ihr Mann leider... ja, er müsse ihr leider mitteilen. . .
    Es gab keinen Ausweg.
    Keine versöhnliche Alternative.
    Keine Möglichkeit, die Schmerzen zu lindern.
    Er warf die Zigarette in eine Pfütze und stieg ins Auto.
Sie öffnete schon nach wenigen Sekunden. Sie hatte auf ihn gewartet.
    »Guten Tag«, sagte er. »Hier bin ich.«
    Sie nickte.
    »Haben Sie in den letzten Tagen die Nachrichten gesehen?«
    »Ja.«
    Sie sah sich um, wie um sich davon zu überzeugen, dass sie nichts vergessen hatte. Die Blumen zu gießen, den Herd auszudrehen.
    »Sind Sie bereit, mich zu begleiten?«
    »Ja. Ich bin bereit.«
    Ihre Stimme klang wie in seiner Erinnerung. Fest und klar, aber tonlos.
    »Darf ich eine Frage stellen?«, sagte er. »Wussten Sie, was wirklich passierte? Wussten Sie es damals schon?«
    »Fahren wir, Herr Kommissar?«
    Sie nahm ihren Mantel vom Kleiderbügel, und er half ihr beim Anziehen. Sie wickelte sich ein dünnes Tuch um den Kopf, nahm Handschuhe und Handtasche aus dem Korbsessel und drehte sich zu ihm um.
    »Ich bin bereit, Herr Kommissar.«
     
    Die Rückfahrt ging sehr schnell. Die ganze Zeit saß sie gerade und unbeweglich neben ihm auf dem Beifahrersitz. Hatte die Hände über ihrer Handtasche verschränkt. Blickte vor sich hin, auf die Fahrbahn.
    Sie redete kein einziges Wort. Er auch nicht. Da alles vollkommen klar, vollkommen abgeschlossen war, gab es nichts mehr hinzuzufügen. Das wusste er, und das Schweigen störte ihn nicht.
    Vielleicht hätte er ja doch eine Frage gestellt oder, genauer gesagt, eine Annahme vorgetragen, doch er wusste, dass das unmöglich gewesen wäre.
    Sehen Sie ein, hätte er sagen mögen, sehen Sie ein, dass wir
ein Menschenleben, vielleicht sogar zwei, hätten retten können, wenn Sie mir das alles neulich schon erzählt hätten?
    Aber das konnte er nicht verlangen.
    Jetzt konnte er keine Antwort verlangen.
    Und er hätte auch damals nicht verlangen können, dass sie ihm die Wahrheit sagte.
     
    Nichts hatte sich verändert, als sie das Zimmer betraten.
    Reinhart und Münster saßen dem Mörder gegenüber. Die Luft war schwer und ein wenig süßlich, und Van Veeteren fragte sich, ob hier überhaupt ein Wort gefallen war.
    Sie ging drei Schritte auf ihn zu. Blieb hinter dem Stuhl des Hauptkommissars stehen und legte die Hände auf die Rückenlehne.
    Er hob den Blick. Sein Unterkiefer zitterte.
    »Rolf?«, fragte sie.
    In ihrer Stimme lag eine Andeutung von froher Erwartung, die jedoch von der Wirklichkeit sofort und brutal zerstört wurde.
    Rolf Ringmar sank langsam über dem Tisch zusammen.

44
    »Was für eine Schicksalstragödie!«, sagte Van Veeteren und schloss die Autotür. »Gleich von Anfang an scheint alles unausweichlich zu sein ... du weißt, dass Inzest als eine der schlimmsten Sünden galt, die man überhaupt begehen konnte. Ganz einfach als Beleidigung der Götter.«
    Münster nickte. Verließ im Rückwärtsgang den Parkplatz.
    »Stell dir vor«, sagte Van Veeteren, »du bist dreizehn, vierzehn. Frühe Pubertät ... empfindlich und hautlos wie eine offene Wunde. Auf dem Weg zum Mann ... die ersten unsicheren Schritte. Wer wäre dein erstes Identifikationsobjekt?«

    »Der Vater«, sagte Münster. Er hat das selber erlebt, dachte er.
    »Richtig. Und was macht der Vater? Säuft und erniedrigt dich. Schlägt dich. Verprügelt dich, aber nicht nur einmal, sondern vielleicht Abend für Abend ... er quält dich, er verletzt dich ... deine Mutter ist zu schwach, um dich zu beschützen. Sie hat ebenso große Angst vor ihm wie du. Man lässt sich nichts anmerken. Man schweigt und lässt allem seinen Lauf... es bleibt ja in der Familie. Du bist wehrlos... du hast keine Rechte; als Erziehungsberechtigter und Familienoberhaupt ist er in seinem vollen Recht. Du kannst nirgendwo hin, kannst nirgendwo Trost suchen ... nur bei einer. Eine gibt es, die alles leichter für dich machen kann ...«
    »Deine Schwester.«
    »Die bisweilen ebenfalls geschlagen wird, aber längst nicht so oft. Sie ist da, sie ist ein wenig stärker als du, ein wenig weniger kaputt ... du findest sie in eurem gemeinsamen Zimmer, wenn du deinem Vater endlich entkommen kannst ... sagen wir, ihr seid beide
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