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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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Instruments, mit dem einst Nathaniel
Bowditch die Weltkarte korrigiert und ergänzt hatte. Und zudem
funktionierte das Gerät einwandfrei, filterte das Gleißen
der Venus, fand den Polarstern im Handumdrehen, machte selbst bei
Bewölkung den beringten Jupiter ausfindig. Nie war Anthony ohne
den Sextanten zur See gefahren.
    »Ich habe einen sehr schönen und akkuraten
Sextanten«, sagte Anthony zu Rafael. »Man weiß nie,
wann der Computer ausfällt«, fügte der Kapitän
hinzu. »Man weiß nie, wann man sich bei der Steuerung an
den Sternen orientieren muß«, betonte der Schiffer der Valparaíso; daraufhin lächelte der Engel und
verhauchte seinen letzten Atemzug.
     
    Der Mond glomm in einem unheimlichen Weiß, stand wie Gottes
Totenschädel am Himmel, während Anthony kurz vor
Morgengrauen Rafael Azarias’ im Erstarren begriffenen Leichnam
durch den Fort Tyron Park schleifte, ihn am Fluß über die
Brüstung stemmte und kopfüber ins kalte, stinkige Wasser
des Hudson warf.

 

     
    Thomas Wickliff Ockham, ein redlicher Mensch, ein Mann, der Gott
liebte, Physik, Verstand, Hollywoodfilme und seine Brüder des
Jesuitenordens schätzte, schlängelte sich unter der Siebten
Avenue durch die dichtbesetzte U-Bahn, lenkte seinen Diplomatenkoffer
achtsam durchs die Vielfalt der den Passanten gehörigen
Oberkörper und Becken. Eine Stadtkarte am anderen Ende des
Waggons zog ihn an, ein kompliziertes Geflecht bunter Linien,
ähnlich der geäderten, blutigen Hand eines kubistischen
Christus. Vor der Karte plante er den weiteren Weg. Aussteigen an der
42. Straße. Mit der Linie N zum Union Square. Zu Fuß die
14. Straße entlang. Kapitän Anthony van Horne von der
Brasilianischen Handelsmarine finden, an Bord der SS Karpag
Valparaíso gehen und einen unvorstellbaren Leichnam zur
Ruhe betten.
    Er setzte sich zwischen einen hutzligen, bärtigen Chinesen,
der einen eingetopften Kaktus auf dem Schoß hielt, und eine
attraktive, etwa dreißigjährige Schwarze in ausgebauchtem
Umstandskleid. Der Jesuit Thomas Ockham empfand die New Yorker U-Bahn
als Vorgeschmack aufs Reich Gottes: Afrikaner Schulter an Schulter
mit Hispanolen, Asiaten neben Arabern, Christen neben Juden, die
Schwangere neben (er dachte an sich) dem Zölibatären. Alle
Grenzen aufgehoben. Jede Trennung beseitigt. Sämtliche Menschen
Glieder einer Allumfassenden und Unsichtbaren Kirche, des Mystischen
Leibes Christi; obwohl es, falls das Halbdutzend Glanzfotos in Thomas
Ockhams Diplomatenkoffer die Wahrheit wiedergaben, kein Reich Gottes
gab, keinen Mystischen Leib Christi, Gott tot war und mitsamt all
Seinen verschiedenerlei Aspekten dahin.
    In Italien war es anders gewesen. In Italien hatten alle Leute
gleich ausgesehen.
    Sie hatten alle wie Italiener ausgesehen…
    Die Kirche steht vor einer ernsten Krise. So lautete der
Anfang der rätselhaften Verlautbarung des Heiligen Stuhls, die
im Postzimmer der Physikalischen Fakultät der Fordham University
aus dem Faxgerät gekrochen war, eines offiziellen Sendschreibens
des Vatikans. Aber welcher Art von Krise? Einer spirituellen?
Politischen? Finanziellen? Darüber besagte die Mitteilung
nichts. Offensichtlich mußte es eine schwere Krise sein,
andernfalls hätte der Heilige Stuhl nicht darauf bestanden,
daß Thomas Ockham seine Vorlesungen für die ganze Woche
absagte (gerade als er die kosmologischen Beweise für die
Existenz Gottes zu präsentieren gedachte) und um Mitternacht das
Flugzeug nach Rom nahm.
    Dort war er am Aeroporto in ein Taxi gestiegen und hatte
den Fahrer beauftragt, ihn stracks zur Gesellschaft Jesu zu
befördern. Als Jesuit in Italien zu sein, ohne in der
Mutterkirche des Ordens die Heilige Kommunion zu empfangen, wäre
das gleiche, als ob ein Physiker in der Schweiz auf einen Abstecher
zum Patentamt verzichtete. Tatsächlich hatte auch Thomas Ockham
anläßlich seines letzten Besuchs beim Conseil Europeen
pour la Recherche Nucleaire eine Pilgerreise von Genf nach Bern
gemacht, um vor dem Rosenholz-Schreibtisch aufs Knie zu sinken, an
dem Einstein 1903 seine bahnbrechende Schrift Zur Elektrodynamik
bewegter Körper verfaßt hatte, die göttlich
inspiriertes Vermählung des Lichts mit der Materie, der Materie
mit dem Raum, des Raums mit der Zeit.
    Also hatte Thomas Ockham zunächst Blut und Leib des Herrn zu
sich genommen und sich erst danach zu dem Treffen mit Kardinal Tullio
di Luca im Hotel Ritz-Reggia begeben.
    Aber Monsignore di Luca, im Vatikan Sekretär für
Besondere Kirchliche
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