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Das Gluehende Grab

Das Gluehende Grab

Titel: Das Gluehende Grab
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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»Grüß dich, Hannes. Kannst du mir einen
kleinen Gefallen tun? Ich schaffe es heute nicht, Sóley
abzuholen ...«
    Auf dem
Spielplatz beobachtete Tinna, wie der Krankenwagen in die
Hauseinfahrt bog. Sie setzte sich auf der Schaukel zurecht und
schwang leicht vor und zurück. Sie war froh, dass die Sirene
nicht eingeschaltet war – dann konnte es nicht so ernst sein.
Vielleicht war die Frau nur hingefallen und hatte sich den
Fuß gebrochen. Ihre Freundin hatte sich mal den Fuß
gebrochen und war mit dem Krankenwagen abgeholt worden. Tinna
blähte die Wangen und {35 }ließ die Luft dann wieder
hinausströmen, während sie über die Sache
nachdachte. Dicke Wangen. Schmale Wangen. Dicke Wangen. Schmale
Wangen. Abrupt hörte sie auf und saß gedankenversunken
da. Das war der Beweis dafür, dass man nicht essen musste, um
dick zu werden. Luft konnte einen dick machen. Sie erstarrte. Hier
war alles voller Luft. Überall war Luft, und man konnte sich
nirgends vor ihr verstecken. Sie musste versuchen, weniger zu
atmen.
    Aus Richtung
des Krankenwagens ertönte ein dumpfer Knall. Vielleicht wurde
gerade ein Verbrecher festgenommen. Wenn das Haus dünne
Wände hätte, könnte sie hindurchsehen, so, wie man
irgendwann durch sie hindurchsehen könnte. Sie kniff die Augen
zusammen, konnte aber nichts erkennen. Trotzdem musste irgendetwas
passiert sein; der Polizeiwagen, der zuerst gekommen war, hatte
Blaulicht und Sirene angehabt. Als ihre Freundin sich auf dem
Schulhof den Fuß gebrochen hatte, war kein Polizeiwagen
gekommen, also hatte die Frau vermutlich keinen Unfall gehabt.
Falls es ein Einbrecher war, würde die Polizei ihn hoffentlich
ins Gefängnis stecken. Die Frau war nett und hatte nichts
Schlechtes verdient. Die Schaukel knarzte. Tinna sah, wie zwei
Männer aus dem Krankenwagen stiegen und eine Bahre
herausholten. Sie seufzte leise. Das verhieß nichts Gutes.
Wann sollte sie denn jetzt die Frau treffen? Vielleicht musste sie
monatelang ins Krankenhaus. Als Tinna das letzte Mal eingeliefert
worden war, durfte sie erst nach vierzig Tagen wieder nach Hause.
Aber es änderte sich ja nicht viel. Die Sache konnte ruhig
warten. Sie hatte schon oft monatelang auf etwas
gewartet.
    Tinna stellte
sich auf die Schaukel, um besser sehen zu können. Sie hielt
sich gut fest, weil ihr vom schnellen Aufstehen schwindelig wurde.
Sobald sie die Augen schloss, ging das Schwindelgefühl wie
immer vorbei. Als Tinna die Augen wieder öffnete, waren die
Männer mit der Bahre ins Haus gegangen. Draußen war
alles ruhig. Sollte sie nach Hause gehen oder darauf warten, dass
die Frau herausgetragen wurde? Sie hatte es nicht eilig; es war
sowieso {36 }niemand zu Hause. Mama arbeitete bis fünf. Es
wartete niemand auf sie.
    Sie ging in
die Knie und schaukelte im Stehen. Es tat gut, die Luft im Haar zu
spüren, und sie schaukelte schneller, bis ihr einfiel, dass
die Luft nicht ihr Freund war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals,
während sie versuchte, die Schaukel zum Stillstand zu bringen.
Sie überlegte, was sie zu der Frau sagen sollte, wie sie ihr
zu verstehen geben könnte, dass sie wusste, wer sie in
Wirklichkeit war. Tinna lächelte. Die Frau wäre
überrascht und wahrscheinlich auch froh. Tinna konnte sich
genau daran erinnern, wie verletzt die Frau gewesen war, als Papa
so übel auf ihre Worte reagiert hatte. Papa war ja auch ein
Idiot. Ein dummer, versoffener Idiot, der Tinna genauso wenig
verstand wie Mama. Die war allerdings noch schlimmer, sprach nur
über Essen und manchmal weinte sie sogar. Deshalb war Tinna
gerne jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater, denn der hatte im
Grunde keine Ahnung. Sagte ihr zwar, sie müsse etwas essen,
kontrollierte es aber nicht wie ihre Mutter. Das passte ihr gut.
Papa war Tinna gegenüber so gleichgültig, dass er noch
nicht mal kapierte, dass sie alles, was an dem Abend zwischen ihm
und der Frau vorgefallen war, gehört hatte. Unbemerkt hatte
Tinna sich ins Haus geschlichen. Weil Papas Stimme so laut und
zornig war, wollte sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie
wusste, wie man nicht auffiel; das war schließlich ihr Ziel
– am Ende würde sie unsichtbar sein. Leise schlich sie
zur Wohnzimmertür und lauschte. Danach ging sie wieder nach
draußen und tat so, als sei sie gerade erst eingetroffen, als
die Frau aus dem Haus kam. Papa war furchtbar schlecht gelaunt und
grüßte sie achtlos, aber sie ließ sich nichts
anmerken, und am Ende war er wieder wie immer und interessierte
sich für nichts
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