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Das Gluehende Grab

Das Gluehende Grab

Titel: Das Gluehende Grab
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
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anderes als für das Fußballspiel im
Fernsehen. 
    Die Frau
wusste ebenso wenig wie Papa, dass Tinna gelauscht hatte.
Vielleicht wusste sie noch nicht einmal, dass es Tinna gab. Im
Gegensatz zu Papa wäre sie allerdings froh darüber, dass
{37 }Tinna das Gespräch mitbekommen hatte, und würde sie
bestimmt kennenlernen wollen. Tinna wusste den Namen und die
Telefonnummer der Frau von der Notiz, die die Frau für Papa
auf dem Tisch liegen lassen hatte. Es war ein ziemliches
Geduldsspiel gewesen, denn Papa hatte das Blatt in kleine
Stücke zerrissen und auf den Boden geworfen, sodass Tinna es
erst wieder zusammenpuzzeln musste. Anhand des Namens und der
Telefonnummer war es leicht, die Adresse der Frau herauszubekommen.
Manchmal war Tinna nur hergekommen, um das Haus zu beobachten, ohne
genau zu wissen, warum. Gestern Abend war allerdings etwas
vorgefallen, das sie aufmerksam verfolgt hatte. Tinna dachte an den
Zettel, der weggeflogen und in einem Strauch hängen geblieben
war. Sie hatte ihn mitgenommen und zu Hause versteckt. Er war
wichtig. Das wusste sie genau. Es würde sich eines Tages schon
noch herausstellen, warum.
    Sie setzte
sich wieder auf die Schaukel und klemmte die braunen Ketten in ihre
schmächtigen Armbeugen. Der Eisengeruch an den Händen
erinnerte sie an letzten Sommer, als sie versucht hatte, mit der
Schaukel einen Überschlag zu machen, weil sie dadurch tausend
Kalorien verbrannt hätte. Sie hatte immer noch eine
hässliche Narbe am rechten Bein, weil der Versuch
kläglich gescheitert war. Damals hatte die Luft sie nicht
dick, sondern schlank gemacht. Es war alles so kompliziert –
die Gesetzmäßigkeiten änderten sich, und Tinna
musste ständig auf der Hut sein, wenn sie nicht fett, fetter
und fetter werden wollte.
    Tinna spitzte
die Ohren. Männerstimmen drangen von der Straße
herüber. Vorsichtig stellte sie sich wieder auf die Schaukel,
damit sie alles sehen konnte. Als Erster erschien ein Polizist und
öffnete die Heckklappe des Krankenwagens. Darauf folgten die
Männer mit der Bahre, und das Mädchen erstarrte. Sie
kniff die Augen zusammen und schauderte. Vielleicht gab es eine
Erklärung dafür? Vielleicht hatte sich die Frau
erkältet und durfte nicht frieren? Tinna sprang von der
Schaukel und ging mit schnellen Schritten zum Gehsteig. Der
Polizist, der an der Heccklappe {38 }stand, wurde auf sie
aufmerksam und schickte sie weg. »Hier gibt’s nichts zu
sehen. Geh nach Hause«, rief er dem Mädchen zu.
     
     
    Tinna
reagierte nicht. Normalerweise hatte sie Angst vor männlichen
Autoritätspersonen, ob es nun Ärzte, Schuldirektoren oder
Busfahrer waren. Aber jetzt hatte sie das Gefühl, als
wäre der Polizist gar nicht da, und konnte die Augen nicht von
dem weißen Laken abwenden. Die Frau rührte sich nicht.
Sie war nicht erkältet. Sie war gestorben und mit ihr Tinnas
Hoffnungen auf ein anderes, besseres Leben, in dem sie schön
und begehrenswert sein würde. Die Frau konnte Leute schön
machen. Das hatte sie gesagt. Tinna drehte sich abrupt um und
rannte weg, ohne zu wissen, wo sie hinwollte. Wenn sie schnell
genug lief, wäre sie vielleicht schneller als ihre Gedanken
und würde das unangenehme Gefühl los, dass Papa der Frau
etwas getan haben könnte. Es wäre ja nicht das erste Mal.
Oder der Besucher, der sich aus dem Haus geschlichen hatte. Der
Besucher, dem der Zettel gehörte. Tinna verbannte all diese
Gedanken aus ihrem Kopf und dachte nur noch daran, dass sie
Kalorien verbrannte. Verbrennen, verbrennen,
verbrennen.
    »Was?
Tot?« Guðni runzelte nachdenklich die Stirn. Er schloss
die Augen und massierte langsam seine Schläfe. Da er
telefonierte, musste er seinen Gesichtsausdruck nicht unter
Kontrolle halten. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er gelernt,
möglichst keine Gefühlsregungen zu zeigen. Das war ihm
nicht besonders schwergefallen, aber manchmal war es trotzdem gut,
allein zu sein und Enttäuschung oder in seltenen Fällen
auch Freude freien Lauf lassen zu können. Er holte tief Luft.
»Wie ist sie zu Tode gekommen?«
    »Sie ist
noch nicht obduziert worden, aber es sieht so aus, als hätte
sie sich umgebracht«, antwortete Stefán. Seine Stimme
ließ keinerlei Regung erkennen. Vielleicht waren solche
Fälle bei der Kripo Reykjavík ja an der Tagesordnung.
»Ich gehe davon aus, {39 }dass wir morgen mehr wissen. Ich
hab die Nachricht gerade erhalten und wollte dir nur Bescheid
geben. Logischerweise war ich nicht persönlich am Tatort. Ich
fahre morgen früh
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