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Das Glück mit dir (German Edition)

Das Glück mit dir (German Edition)

Titel: Das Glück mit dir (German Edition)
Autoren: Lily Tuck
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Selbstmörder um diese Erfahrung, nicht aber um ihr schreckliches, schmerzhaftes Ende, nicht um den Aufprall.
    Ein Gedicht fällt ihr ein – ein Gedicht über eine Stewardess, die aus einem Flugzeug gerissen wird, als sich eine Nottür plötzlich öffnet. Das Gedicht fußt auf einer wahren Begebenheit und beschreibt, wie die Stewardess hoch oben in der Luft über den Kornfeldern von Kansas ihre Kleider abzuwerfen beginnt – eine Art todesverachtender Striptease –, erst ihre Jacke mit den aufgenähten Silberflügeln, dann ihre Bluse, ihren Rock, ihren Hüfthalter (den mussten Stewardessen damals tragen), und wie sie als Nächstes ihre Schuhe von sich schleudert, ihre Strümpfe abstreift, sich ihres BHs entledigt, bis sie schließlich nackt ist.
    Statt eines Opfers, das in den Tod stürzt, staunt die Stewardess, Vogel und Göttin zugleich, über das Hochgefühl des Fliegens und ihre neugewonnene erotische Freiheit. Sie ist »das Tollste, was Kansas je passiert ist«   – eine Zeile, an die Nina sich erinnert.
    Saltalavecchia, wiederholt Nina.
    Jean-Marc besitzt ein Motorrad – eine Moto Guzzi, ein italienisches Fabrikat.
    Bei einem Spaziergang am Hafen stoßen Philip und Nina eines Abends auf ihn, als er es an der Straße abstellt. Er warte auf seine Frau, die mit der Fähre kommt, erzählt ihnen Jean-Marc. Sie hat Verwandte in Brest besucht.
    Ich habe noch nie eine Moto Guzzi aus der Nähe gesehen, sagt Philip und geht um Jean-Marcs Motorrad herum, um es zu inspizieren. Ich dachte immer, BMW baut die besten Motorräder.
    Trinken wir doch etwas, solange du hier wartest, sagt Philip außerdem.
    BMW hat vielleicht die besten, antwortet Jean-Marc, aber ich habe von meinem Vater her eine Aversion gegen alles, was aus Deutschland kommt.
    Wieso denn das?, fragt Philip, obgleich er sich die Antwort vermutlich denken kann. Was trinkst du?, fragt er außerdem, als sie draußen vor einem Café Platz genommen haben und er mit einer Geste den Kellner auf sich aufmerksam macht.
    Mein Vater war Kriegsgefangener in Deutschland, sagt Jean-Marc. In Bad Orb bei Frankfurt. Als er nach fast fünf Jahren zurückkam, wollte er von Deutschland nichts mehr hören. Er wäre nie in einen Mercedes eingestiegen.
    Wir haben daheim einen Volkswagen, sagt Nina, aber sobald die Worte ausgesprochen sind, bereut sie es schon. Jean Marc jedoch scheint nichts gehört zu haben.
    Wollt ihr sehen, was ich heute gekauft habe?, fragt sie, um das Thema zu wechseln. Aus ihrer Einkaufstüte zieht sie ein paar rote Espadrilles. Gefallen sie euch?
    Das wievielte Paar ist das jetzt?, sagt Philip lächelnd.
    Eine unendliche Zahl, antwortet Nina. Auch sie lächelt.
    Die Fähre, sagt Jean-Marc und deutet mit dem Kinn in die Richtung. Meine Frau kommt.
    Später sagt Nina zu Philip, ich verstehe nicht, wieso es etwas anderes sein soll, eine Moto Guzzi zu fahren. Die Italiener und die Deutschen waren im Krieg Verbündete.
    Die Deutschen waren die Bösen; die Italiener waren bloß die Dummen, lautet Philips Antwort.
    In Gedanken besucht sie kurz noch einmal den deutschen Soldatenfriedhof mit den schwarzen Malteserkreuzen auf den vielen Grabsteinreihen mit den Namen der fast zwanzigtausend Toten.
    Namen wie Dieter, Friedrich, Hans, Felix.
    Felix, der Glückliche – bloß dass Felix tot ist.
    Sie blickt hinüber zu Philip und versucht sich vorzustellen, wie es ist, tot zu sein. Ist es wie bevor er geboren wurde, bevor er lebendig war?
    Ein Widerspruch. Unmöglich, sich das vorzustellen, ebenso unmöglich eigentlich wie die Vorstellung ihrer eigenen Nichtexistenz.
    Eine Astrophysikerin jedoch – eine Astrophysikerin wie Lorna – wusste bestimmt, wie man in abstrakten Räumen existiert, Räumen mit vollkommen anderen geometrischen Eigenschaften, die Systeme der Vektoralgebra, der Infinitesimalrechnung und der Euklidischen Geometrie auf solche mit irgendeiner endlichen oder unendlichen Zahl von Dimensionen ausdehnen. Hilbert-Raum, Impulsraum, reziproker Raum, Phasenraum.
    Räume, von denen Nina keine Ahnung hat.
    Da.
    Da ist sie!
    Nina vergegenwärtigt sich die lockige Lorna, die dünnen, von Sommersprossen übersäten Arme zu einem perfekten T ausgestreckt, wie sie virtuos durch den gleißenden Raum navigiert, in dem Uranus und Neptun um die Sonne kreisen – sie, die nicht Auto fahren konnte! Sie trägt die nicht zusammenpassenden flachen Ballerinas: einen silbernen, einen schwarzen.
    Sie ist unempfindlich gegen die Kälte – die Temperatur auf dem Neptun beträgt
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