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Das Glück mit dir (German Edition)

Das Glück mit dir (German Edition)

Titel: Das Glück mit dir (German Edition)
Autoren: Lily Tuck
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immer, herauskommen und sie sehen, hält sie die Luft an. In der Eingangshalle platzt die Fruchtblase, ein Strom ergießt sich auf den rissigen Linoleumboden. Gleich darauf sieht sie einen Wagen vorfahren, und ein Polizist in Mantel und Hut stürmt zur Tür herein. Sein Gesicht ist von der Kälte gerötet, er sieht jung aus – jünger als sie. Er führt sie hinaus in den Schnee, er stützt Nina auf dem Weg zum Wagen, damit sie in ihren leichten Ledermokassins nicht ausrutscht – es sind die einzigen Schuhe, die ihr noch passen, seit sie so aufgegangen ist.
    Sie liegt auf der Rückbank des Polizeiwagens, wie eine Kriminelle durch ein Gitter vom Hinterkopf und den Schultern des jungen Polizisten getrennt, der am Steuer sitzt. Die Straßen sind nicht geräumt, der Neuschnee liegt zentimeterdick. Der Widerschein des Blaulichts, der surreal über sie hinweghuscht, verbreitet eine unheimliche Atmosphäre. Der Polizist spricht in sein Funkgerät; ten-four , wiederholt er mehrfach; wenn er bremst, bricht der Wagen seitwärts aus. Ein Lastwagen mit Schneeketten rumpelt ihnen lautstark entgegen, und Nina, einen Moment lang von seinem Scheinwerferlicht erfasst, sieht kurz das erstaunte Gesicht des Fahrers. Louise ist fast schon da.
    Wie, fragt sie sich, sieht der junge Mann, mit dem Louise gerade im Restaurant sitzt, aus?
    Sieht er aus wie Philip?
    Philip hat ein fotografisches Gedächtnis. Mit absoluter Zuverlässigkeit erinnert er sich an Namen, Orte und beinahe jedes Gericht, das er je gegessen hat – wenn es gut war jedenfalls. Er kann ganze Passagen aus Büchern und viele Gedichte rezitieren: Die Ballade vom alten Seemann ; Das verlorene Paradies ; Shakespeare: Nun ward der Winter unsers Missvergnügens / Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks – sie hört seine sonore Stimme und seinen britischen Akzent. Er kann auch ganze Abschnitte aus lateinischen Texten aufsagen, die er als Junge auswendig gelernt hat.
    Ein Trick, erklärt er. Man braucht nur eine Verbindung zwischen den Worten und einer bildlichen Vorstellung zu ziehen, der man eine Stelle im Raum zuweist. Die alten Griechen wussten, wie man das macht. Die Geschichte von Simonides ist ein klassisches Beispiel.
    Die hast du mir schon mal erzählt, aber ich habe sie vergessen, sagt Nina.
    Simonides war engagiert worden, bei einem Bankett ein Gedicht vorzutragen, doch der Gastgeber, ein Adliger, verweigerte ihm den vereinbarten Lohn, weil Simonides in dem Gedicht nicht ihn gepriesen habe, sondern Castor und Pollux, also solle er sich auch von diesen beiden Göttern bezahlen lassen. Darauf sagte man Simonides, zwei Männer warteten draußen auf ihn, und als er den Bankettsaal verließ und nach draußen trat –
    Jetzt weiß ich wieder, sagt Nina. Es war niemand da, und plötzlich stürzte das Dach des Bankettsaals ein und begrub sämtliche Gäste unter sich. Ihre Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, aber Simonides hatte ein Bild davon im Kopf, wo jeder gesessen hatte, und so konnte er sie identifizieren. Ich erinnere mich, dass du mir diese Geschichte einmal im Sommer auf Belle-Île erzählt hast. Wir saßen in einem Café am Hafen. Ich glaube, wir warteten auf die Fähre und auf Louise.
    Genau so meine ich das, sagt Philip lächelnd.
    Wenn sie die Augen schließt, kann sie das Haus auf Belle-Île sehen. Ein farbenfrohes altes Haus, eine Seite ist rot gestrichen; auch die Fensterläden sind rot, von einem tieferen, dunkleren Rot. Die verputzten Wände sind dreißig Zentimeter dick und die Decken niedrig.Blaue Hortensien wachsen in dichten Hecken rund um das Haus.
    Das Haus sieht aus wie die französische Flagge, sagt Philip.
    Sie kommen mit der Fähre von Quiberon. Das Meer ist oft rau und das Schiff stampft und rollt, Gischt sprüht bis zu den Fenstern der Passagierkabine und trübt die Sicht auf die näher kommende Insel. Einmal beobachtet Nina, wie sich ein Bauer abmüht, sein Pferd samt Wagen auf die Fähre zu lenken. Das Pferd weigert sich, die metallene Rampe zu betreten, es stampft laut mit den Hufen, dass die Funken sprühen. Es ist Ebbe, die Rampe ist steil und das Pferd scheut und bricht beinahe aus dem Geschirr. Es ist ein großes, weißes Bauernpferd und während der ganzen Überfahrt nach Belle-Île hört Nina sein klägliches Wiehern aus dem Frachtraum.
    Beinahe zwanzig Jahre lang mieten sie dasselbe Haus. Es gehört einem ortsansässigen Ehepaar, das es langsam, ganz langsam über die Jahre renoviert und modernisiert, so dass sie jeden
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