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Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)

Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)

Titel: Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
Autoren: Ines Kiefer
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kraulte. Das würde ich heute gar nicht mehr aushalten. Meine Füße sind so empfindlich, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Es kommt mir so vor, als würden sie Jahr für Jahr empfindlicher. Das ist wirklich verrückt, dass ich keinen Schmerz empfinde, aber an den Fußsohlen wie eine Prinzessin auf der Erbse reagiere. Von meinen Füßen halte ich alles fern. Da kann ich mich auch nicht zusammenreißen, nicht mal Tim zuliebe.
    Seit zehn Jahren war ich nun schon Rollstuhlfahrerin … in noch mal zehn Jahren würde ich mehr Zeit auf Rädern als auf meinen Beinen verbracht haben. An Tims Atem hörte ich, dass er eingeschlafen war, wohlig an meine Schulter gebettet. Ich schaute meine Füße an, die unter der Decke hervorlugten.
    »Zeh, beweg dich!«
    Und wie immer, wenn ich diesen Befehl an mein Gehirn gebe, hatte ich das Gefühl, der Zeh würde sich bewegen. Im Krankenhaus nach der Operation hatte mich das verrückt gemacht. Ich hätte mein Hab und Gut dafür verwettet, dass sich meine Zehen bewegten, wenn ich den Befehl gab, denn ich spürte doch, dass sie reagierten. Bloß sah ich das nicht. Weiß, glatt und makellos ragten sie in die Luft.
    »Los! Wackeln!«
    Und wieder das sichere Gefühl, dass sich dort unten etwas rührte. Im rechten großen Zeh. Der winkte mir doch zu. Das war ganz deutlich zu spüren. Ja, zu spüren schon. Irgendwo in meinem Kopf vielleicht. Das Signal kam nicht an. Es wurde abgeschickt, ging dann aber verloren. Phantomschmerz. Darunter litten doch die Menschen, denen Gliedmaßen amputiert wurden. Und was hatte ich? Phantomwackeln?
    Ich seufzte. Ja, so war das jetzt. Daran hatte ich mich gewöhnt, auch wenn es mich immer wieder verblüffte, dass ich nicht sehen konnte, was ich so deutlich spürte. Doch es stürzte mich nicht mehr in Verzweiflung wie damals im Krankenhaus.

    Immer dringender wünschte ich mir ein zweites Kind. Meine Sehnsucht ließ sich nicht mit vernünftigen Argumenten besänftigen. Erst die Prüfungen, erst ein Trauerjahr. Tim wurde demnächst fünf. Ich wollte den Abstand zwischen den beiden Geschwistern nicht noch größer werden lassen. Thomas äußerte Bedenken. Zum einen fühlte er sich in der Trauer um seine Mutter nicht in der Lage, sich auf ein Kind zu freuen, zum anderen sorgte er sich, er könnte die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte vererben.
    »Aber das kann immer passieren. Heute, morgen, in drei Jahren.«
    Beim nächsten Frauenarztbesuch ließ ich mir die Spirale ziehen. Dann hatte ich keine Zeit mehr, eine Schwangerschaft zu planen, denn ich steckte mitten in den schriftlichen Prüfungen. Kurz vor den mündlichen Prüfungen im November hatte ich so ein komisches Gefühl. Tim saß neben mir, als ich den Schwangerschaftstest auspackte. Er war auch der Erste, der es erfuhr: »Du bekommst ein Brüderchen oder ein Schwesterchen.«
    Tim war aus dem Häuschen vor Begeisterung. Gemeinsam packten wir einen Strampelanzug als Geschenk ein und überreichten ihn Thomas, als er von der Arbeit nach Hause kam. Thomas wusste vor Freude überhaupt nicht mehr, wohin mit sich. Er drückte mir fast die Luft ab – und als er die Nachricht einigermaßen verdaut hatte, kamen seine Sorgen. Ob der Zeitpunkt der richtige sei. Ob das Kind gesund sei. Wie das für Tim wäre. Wie wir das alles schaffen würden.
    »Hallo!«, unterbrach ich ihn. »Wir schaffen das. Weil wir uns lieben.«

    Im Dezember erhielt ich meine guten Prüfungsergebnisse und die Qualifizierung für den gehobenen Dienst. Ziel erreicht! Ab sofort lautete die Parole: Nie mehr Schule!
    Ich erhöhte meine Arbeitszeit auf 100 Prozent. Als Beamtin bedeutete dies eine 40-Stunden-Woche und für mich im Besonderen eine mächtige Herausforderung, was die Kindergartenzeiten betraf. Ich fuhr Tim um 7 Uhr morgens in den Kindergarten und holte ihn um 16.30 Uhr ab, was manchmal zu sehr hektischen Tagen führte. Hin und wieder brachte Thomas Tim in den Kindergarten, so konnte ich Überstunden machen. In dieser Zeit kamen alle zu kurz. Tim, Thomas, Sita, die Familie, der Haushalt, Freundschaften und letztlich auch der Genuss meiner Schwangerschaft. Doch ich wollte mich von einer ganzen Stelle in den Mutterschutz verabschieden, und dann würde ich alles nachholen.

Das Rätsel Frau
    Und schon wieder hatte ein neues Jahr begonnen. 2010. Über die Feiertage waren wir ein bisschen zur Ruhe gekommen. Tim schlief, mit Thomas kuschelte ich auf der Couch.
    »Nächstes Weihnachten sind wir schon zu viert«, sagte er.
    »Zu fünft«,
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