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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Weißbrotscheiben auf, die Thermoskanne, einen Becher mit Strohhalm, und setzte sich an die Stelle, wo alles gestanden hatte. Sie neigte den Kopf, um mit ihrem liegenden Großvater auf Augenhöhe zu kommen. Er drehte das Gesicht zur Wand und schimpfte leise auf Russisch. Lydchen bot ihm immer wieder ein Butterbrot an, das er irgendwann mit der Hand erwischte. Es landete neben dem Bett auf dem Boden.
    Als Katarina den Eindruck gewann, Lydchen bei ihren Versuchen im Weg zu sein, stand sie auf und ging zur Balkontür. Zog die Gardinen zur Seite, öffnete die Türen, die Nacht draußen war noch dunkel, klar und kühl. Der Balkon war das Dach des Wintergartens, quadratisch und solide, eine Terrasse mehr als ein Balkon, weit über dem Garten. Katarina hörte Antons Schimpfen und wie Lydia sagte, »Mach sofort wieder zu, Kind, er holt sich den Tod in der Kälte.«
    Mit einem Mal war Katarina froh, daß ihr Großvater russisch schimpfte. Daß keiner verstand, was er sagte.
    Katarina ging nach draußen, klappte den an die Wand gelehnten Liegestuhl auf, schob die rostigen Gitterstühle daneben, holte Kissen, eine Decke aus dem Schrank, roch den Staub in den Stoffen und schüttelte ihn nicht aus. Sie betrachtete den Liegestuhl, umrahmt von den Gitterstühlen, und setzte sich auf den rechten Stuhl, spürte seine Wackeligkeit, die losen Schrauben, und legte die Füße trotzdem aufsBalkongeländer. Der Horizont der Stadt war angereichert mit Licht. Die Mitte des Himmels noch blauschwarz und Nacht. Anton schien mit dem Schimpfen aufgehört zu haben, auch Lydchens Klagen waren verstummt, kein Auto fuhr, kein Vogel, kein Wind ging in den Kieferkronen.
    Erst nach einer Weile hörte sie das Rascheln, das Zusammenpacken, den Aufbruch und sah plötzlich Anton, wie er neben ihr stand. In das Federbett gewickelt, von Lydchen flankiert. Er schaute Katarina an, direkt und mit wütender Entschlossenheit, dann schaffte Lydia es, ihn zu drehen, als wolle sie ihn wieder hineinbegleiten, aber er entzog sich ihren Händen, stand für Sekunden frei und allein in seine Daunendecke gehüllt, mit Blick in den Garten, und knapp hinter ihm der Liegestuhl.
    Katarina erwartete, daß er etwas sagen würde. Aber er sagte nichts.
    Er klappte nur ein, knautschte sich in seiner Hülle zusammen, Lydchen griff nach seinen Schultern, Katarina dirigierte den Liegestuhl unter den abstürzenden Körper, das Holz knarrte, die Scharniere knirschten. Lydchen schickte ein schicksalsergebenes Seufzen gen Katarina, dann zog sie die dünnen Eisenbeine des Gitterstuhls schnarrend über den Boden, nah zu ihm hin.
    Nie fiel Katarina deutlicher auf, wie sehr sie die Tochter ihrer Mutter war. Genau wie Senta wußte sie nichts zu sagen, fühlte sich eingeengt durch ihre Ernsthaftigkeit, ständig beschäftigt mit dem Versuch, das Leben zu begreifen, während sie mit großem Abstand davorstand und meinte, es nur ausgiebig betrachten zu müssen. Ohne es ihrem Großvater mitzuteilen, beschloß sie, seine Mahnung nicht in den Wind zu schlagen. Zumindest versuchen konnte sie es. Um nicht mit verbundenen Augen weiter im Kreisrund um ihre blinden Flecken, die Flecken der Angst, zu laufen.
    Statt zu reden, schienen sie auf ihre gemeinsamen Atemgeräusche zu lauschen, wobei Lydchen noch mehr auf Antons Atem zu achten schien als auf ihren eigenen. Und wie jeder Mensch mit schwindender Hoffnung hofften sie, durch diese Verlangsamung die Zeit anhalten zu können, das Aufgehen der Sonne, die Vögel, den Tag. »Was zu trinken?«, unterbrach Lydchen die Stille, und Katarina war erleichtert, daß das einzige, was hier gesprochen wurde, eine so pragmatische, lebensnahe Aufforderung war.
    Kein Essen, kein Trinken, er wischte alles nur mit einem Zucken des Kinns aus der Luft. Lydchen starrte vor sich auf ihre Hände, Katarina rutschte im Stuhl hinunter, so daß sie dem Himmel beim Aufhellen zusehen konnte, den letzten dunstmatten Sternen beim Verschwinden.
    Anton öffnete seine reptilienkleinen Augen, das Lid schon vom Apfel abgelöst, er hatte seine Zähne eingebüßt und das Futter in den Wangen. Das Tuch über ihnen verlor seine Schwärze, zuletzt seine blaue Tönung, es löste sich auf. Lydchen suchte nach Antons Hand unter dem Daunenfedermantel, er kam ihr nicht entgegen, aber er ließ es zu. Seine andere Hand kroch unter dem Weiß hervor und legte sich an seinen Hals, als prüfe er den eigenen Puls. Katarina legte ihre Finger auf seine, er griff nach ihr.
    Er nahm einen tiefen Atemzug,
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