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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Katarina ihn im Flur des Erdgeschosses traf, so wütend, wie sie ihn lange nicht mehr erlebt hatte. Er sagte: »Katjuscha, hör auf. Hör auf, diese Geschichten zu glauben.«
    »Aber nur dazu sind sie da.«
    »Nein, sie sind nur dazu da, der trostlosen Wahrheit einen wunderhübschen Anstrich zu geben.«
    »Ich will nicht glauben, daß er lügt. Nur ich lüge. Er ist ehrlich mit mir.«
    »Ach, Katjuschinka«, sagte er mit nachsichtiger Traurigkeit, »vielleicht bist du einfach nur wie ich, anfällig fürs Verführtwerden, aus Gründen, die der Chiron im Horoskop gut kennt. Vergiß ihn nicht, den Heiler, der sich selbst nicht heilen konnte, aber dafür den Prometheus erlöste.«
    »Du mit deinen Sternen«, sagte sie kühl.
    Er ging, mit seinem weinrot-grün gestreiften Satinbademantel über dem Pyjama, den Gang hinunter, den Gürtel lose um die Taille, er war so klein geworden, daß der Saum des Mantels einer Schleppe gleich über den Boden zog.
    »Dann wiederhol die ganze Geschichte«, sagte er am Türrahmen zur Küche und verschwand.
    Sie wartete lange, unendlich lange, so schien es ihr. Sie übte sich jeden Tag ein bißchen mehr im Übergehen ihrer Bedürfnisse und aller Zweifel und ärgerte sich über sich selbst, als sie vor Erleichterung weinte, des Nachts, als sie Richards Stimme hörte, unter dem Wintergartenfenster, und er nach ihr rief.
    Sein Gesicht war zerfurcht von Getriebenheit, als er zu ihr ins Zimmer kletterte. Seine Handflächen waren feucht, er roch nach dem Schweiß der Angst, den kein Deodorant zu überdecken vermochte. Er schaute sich oft um. Aber er ließ sich von ihr in den Arm nehmen, er sagte sogar leise: »Liebste, mein Gott, fühl ich mich hier wohl.« Mit der Hingabe und dem Stolz einer Frau, zu der ein verschwunden geglaubter Liebhaber zurückgekehrt war – und sei es nur temporär –, bereitete sie ihm einen Tee, kochte ihm eine Lauch-Ingwer-Suppe, buk ihm eine Pizza, rührte einen gezuckerten Joghurt an. Zum Nachtisch gab es Käse und Weintrauben auf der Matratze unter dem Flügel. Er lag in ihren Armen und atmete ruhiger. Sie liebten sich, und es ähnelte den ersten Malen auf ihrer Insel des Glücks im vormals zugemauerten Teil des Hauses. Er sagte: »Ich will, daß du mit mir kommst.«
    »Wohin?«, fragte sie, atemlos.
    »Eine Art Reise. Eine Heimkehr. An den Ort, der dir zeigt, wer ich bin.«
    »In Ordnung«, sagte sie langsam und genoß ihre Zufriedenheit. Sie schnippte das Unbehagen zur Seite, zusammen mit dem Kern einer Weintraube. Das Unbehagen, das sich am Wort Heimkehr entzündet hatte. Richard hatte kein Heim, in das er kehren konnte. Der Staat, in dem er aufgewachsen war, existierte nicht mehr. Für einen Augenblick mußte Katarina an Nadja denken, an Nadjas Theater, an ihre Bühne in ihrer Heimatstadt; alles hatte sie Zeit ihres Lebens nicht mehr betreten, eine Heimkehr war nicht möglich gewesen. Der Verlust begründete die Einsamkeit, ihre Form von Immigration, die Verkapselung, in der sie ihr Leben verbracht hatte.
    Die Wohnung von Richards Mutter – wenn er denn das als sein Zuhause bezeichnen würde – mußte ähnlich unbetretbar sein. Ging es um eine Reise zu seinem Vater? Wo auch immer der Mann jetzt war? Warum überhaupt suchte Richard, der Weltbürger, der durch Zeit und Raum Reisende, der wahrhaft Unsentimentale, nach irgendeiner Art von Heimat?
    Katarina zog das schwarze Wollkleid an, das sie bei ihrem allerersten, zufälligen Treffen vor der Eingangstür von Gregors Haus auch getragen hatte. Sie trug Puder und Lippenstift auf, malte sich die Augen rundum schwarz, wie es in ihrer Familie Tradition war. Sie zog die höchsten Schuhe an, die sie besaß. Sie betrachtete sich im Spiegel, den Kajalstift noch in der Hand. Sie malte vorsichtig, in einem einzigen Strich, ihre Silhouette auf dem Spiegel nach. Das war sie, da in diesen Rändern. Wenn sie auch sonst nie Grenzen setzte, aus welcher Angst auch immer, hier fand sie ihre Umrisse dokumentiert. Es half nicht gegen das Gefühl, in Auflösung begriffen zu sein.
    Sie ging in den Flur, horchte auf Geräusche im Haus. In Lydchens Hinterküchenkammer, meinte sie nur das Kratzen der Sandpapier-Nagelfeile auf den Hornkuppen der Fingernägel zu hören, dann eine emotionslose Fernsehstimme aus dem ersten Stock – der Acht-Uhr-Nachrichten-Gong. Anton verpaßte an keinem Abend eine Dosis Weltgeschehen, als dürfe sich das Draußen nicht vollkommen seiner Kontrolle entziehen.
    Katarina drehte sich um, sah Richard an der
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