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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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es keine schönere Aufgabe gibt. Bitte sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede«, sagte die Concierge. Katarina drehte sich nicht um, stand nicht auf und schaute ihre Vorgesetzten nicht an. Sie wollte nah beim Flügel bleiben, das einzige Ding, über das sie die Kontrolle hatte.
    »Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie aufhörten, unsere selige Insel in Schutt und Asche zu legen.«
    »Ich war mir sicher, ich spiel ein Konzert.«
    »Eher ein Kettensägenmassaker«, sagte der Hotelchef.
    »So funktioniert das nicht«, sagte die Concierge.
    »Aber ich schein so zu funktionieren«, sagte Katarina leise.
    Sie stand draußen vor der goldglänzenden Tür, und ihr Blick wurde geschient durch die Glasfassaden, hoch zum Himmel, der eine geometrische Form zwischen Giebeln, Rundbögen und langen Spitzen war. Kein Mond, nur ein paar Sterne, deren Lichtpunkte sie verbinden konnte, um einen Bären, einen Wagen oder sonst eine auf der Erde bekannte Form zu konstruieren. Da fiel ihr Chiron ein, den ihr Großvater besonders verehrte, den er mit größter Gewissenhaftigkeit in jedem Sternenbild, das er zeichnete, lokalisierte. Halb Pferd halb Mensch, halb Planet halb Fixstern, ganz weit hinten im Himmel, nie sichtbar mit bloßem Auge. ›Chiron‹, hatte ihr Großvater unzählige Male zu ihr gesagt, ›ist unser verletzlichster Punkt. Wo wir Mavericks sind, Einzelgänger, wo wir meinen, allein sein zu müssen, damit niemand unsere Schwäche sieht. Der Punkt, der uns sagt, daß wir nur halb geboren und unfertig geblieben sind, aus Angst. Immer nur die Angst, wenn die ganze Wahrheit ans Licht käme. Als Chiron, der Heiler, erkannte, daß er sich selbst nicht heilen konnte, schlug er vor, für Prometheus einzustehen, und erlöste ihn vom Hängen am Berg. Gerade den überheblichen Prometheus, der den Menschen das Feuer gebracht und die Götter verärgert hatte. Der sich für unverwundbar hielt. Der Hochstapler. Der versprach, während er wußte, daß er log. Der es aber immer wieder schaffte, daß ihm alle seine Lügen glaubten.‹
    Die künstliche Gesamthelligkeit des Platzes wirkte beruhigend. Katarina verlor die fernen Leuchtpunkte aus demBlick, Antons symbolisches Immunsystem. Hier unten war eindeutig mehr Licht.
    Sie stand am Rand der Straße, vor ihr die großflächige Kreuzung, und sie hatte keinen blassen Schimmer, wie sie ihrem blinden Fleck auf die Spur kommen konnte. Von dem sie sich selbst nicht heilen konnte, denn schließlich war es der Punkt, an dem sie sich so beharrlich selbst belog.

L ydchen erwartete sie schon am Eingang des Hauses, sie trug ihre Küchenschürze über dem knöchellangen Rüschennachthemd, und ihr Gesicht wirkte das erste Mal, seit Katarina sie kannte, ratlos und von einem diffusen Erschrecken getrieben. Noch nie zuvor hatte sie sie klagen gehört ob ihres Schicksals. Jetzt machte sie jeden Handgriff in größtmöglicher Eile, gesteuert nur durch Gewohnheit und Beherrschung, und sagte leise und unablässig »Liebergottstehunsbei«. Dabei raste sie in die Küche, raste mit einer Thermoskanne die Treppe hinauf, hielt erst vor der Tür zum grünen Kinderzimmer an, um dann voll Selbstbeherrschung und mit Haltung einzutreten.
    Katarina ging Stufe für Stufe nach oben, an den gemalten Gesichtern ihrer Eltern vorbei. Das Holz des Handlaufs war warm, die Drahtfäden des Läufers stachen in ihre nackten Fußsohlen. Sie hatte den Klang ihres Endlosschleifenspiels im Ohr, samt unfertigem Ende, und ahnte kurz, daß der Chef und die Concierge recht gehabt hatten. Sie hatte gespielt, als wäre sie auf der Flucht. Vor wem auch immer.
    Sie nahm die letzte Stufe, ging auf dem Bambusläufer den Flur entlang, erinnerte, wie die Borsten ihren Brüdern und ihr, als sie Kinder gewesen waren, in Handflächen und Knie gestochen hatten, womit sie die Vorstellung nähren konnten, sich in einem gefährlichen Dschungel zu befinden, dessen Boden mit Skorpionen und Ameisen übersät war.
    Sie kam im grünen Zimmer an, als Lydchen damit beschäftigt war, Antons geschrumpften Körper aufzuwuchten, aber Anton wehrte sich, indem er seine Hüfte versteifte, seinen Nacken geradehielt. Er fluchte und schimpfte, er sprach Russisch und Deutsch durcheinander. »Ich bin ein Lügner«, sagte er, und Lydchen wischte mit protestantischer Unnachgiebigkeit durch die Luft: »Nein. Du mußt nur was essen.«
    Katarina suchte einen Platz – sie wollte nicht herumstehen, ihre Fremdheit kultivieren –, sie hob einen Teller mit gebutterten
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