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Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Titel: Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
Autoren: Peter Orullian
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nach den Wurzeln zurück.«
    Tahn versuchte, Sutter mit einem Blick zum Schweigen zu bringen, aber sein Freund wollte ihm nicht in die Augen sehen.
    Der Mann wandte sich ungerührt wieder Tahn zu. »Und Ihr?«
    »Ich bin müde«, sagte Tahn.
    »Unfug«, entgegnete der Mann. »Durch die Wildnis zu spazieren ist doch nicht so anstrengend. Eure echten Berufe bedeuten mir nicht viel, aber sie sind sicher interessanter als Eure Behauptung, Abenteurer zu sein. Das Leben selbst ist doch schon abenteuerlich genug, findet Ihr nicht auch?«
    Tahn musterte das ungezwungene Lächeln auf dem Gesicht des Mannes. Wahrscheinlich fehlte es dem Fremden einfach an Gesellschaft, und er war nur deshalb so aufdringlich. Seine edelsteinbesetzte Schwertscheide, sein Umhang und sein Dreispitz waren der übertriebene Aufputz eines nicht besonders selbstsicheren Mannes. Er sprach mit eleganter Gespreiztheit, auf die geschliffene Art, wie ein Händler redete. Aber er hatte nichts dabei zu gewinnen, Tahn und Sutter zu helfen, und Tahn konnte ihm das Gefühl der Einsamkeit nachempfinden.
    »Doch«, antwortete Tahn. »Ich jage Wild und kümmere mich um den Wald in der Nähe meines Zuhauses.«
    »Und wo liegt dieses Zuhause?«, fragte der Mann.
    Nun tauschte Tahn doch einen Blick mit Sutter, und sein Freund schüttelte beinahe unmerklich den Kopf, um ihn zur Zurückhaltung zu ermahnen. »Reyal-Te«, sagte Tahn.
    Der Mann nickte. »Am Rande des Malwalds. Ihr seid weit weg von zu Hause. Vielleicht steckt in Euch beiden doch etwas von Abenteurern.«
    Ihr Führer saß bequem da und wirkte trotz des Tagesmarsches ausgeruht, kraftstrotzend, obwohl er kein bisschen Nahrung zu sich genommen hatte. Die Nachtluft wurde immer kühler. Tahn und Sutter rückten näher ans Feuer heran und wärmten sich Arme, Oberkörper und Wangen, während sie am Rücken vor Kälte eine Gänsehaut bekamen. Ihrem Führer schienen die sinkenden Temperaturen nichts auszumachen.
    Etwas war Tahn an ihrem Weg durch die Wildnis eigenartig erschienen, und es fiel ihm wieder ein, als er sich die Hände an den Flammen wärmte. »Wie findet Ihr Euch in diesem Wald zurecht? Ihr könnt den Weg doch nicht gelernt haben, indem Ihr ihn nur ein einziges Mal gegangen seid.«
    »Oh, ich bin schon sehr lange hier, mein Freund«, sagte der Mann. »Die Ironie beim Studium der Vergangenheit besteht darin, dass wir zu oft eine ganze Generation in die Fußnoten einer einzigen Seite zwängen. Wenn man sich in angemessener Form der Geschichte widmet, dann dauert die Beschäftigung damit so lange, wie andere brauchten, um sie zu durchleben, davon bin ich überzeugt. Und wenn ich herausfinden soll, was aus den Leuten hier geworden ist, was sie dazu verleitet hat, diese schöne Stadt zu verlassen, muss ich alles lernen, was einem Bürger selbstverständlich erschienen wäre: die unterschiedlichen Bedeutungen der Wörter, derer man sich bediente, um zu beleidigen, zu erbauen oder Gelächter hervorzurufen; die ungeschriebenen Verhaltensregeln, die Respekt oder Intoleranz verrieten; ob die Lebenseinstellung der Bevölkerung mit der ihrer Dichter übereinstimmte oder ob die Dichter rebellisch waren und nur für sich selbst sprachen.«
    »Ich sehe keinen Sinn darin«, mischte sich Sutter ein. »Bei allem Respekt«, fügte er vorsichtig hinzu, »sie sind doch verschwunden, so oder so, und das Leben ist auch ohne sie weitergegangen.«
    Die Gesichtszüge ihres Führers erschlafften, und der aufgeräumte Ausdruck verschwand. Er richtete die Augen auf Sutter, ohne den Kopf zu wenden. »Ihr habt Euch Eure Frage selbst beantwortet, Rübenbauer. Wie kann Euch das entgehen? Heute haben wir auf dem hochberühmten Platz der prächtigsten Stadt gestanden, die je errichtet wurde. Vom zentralen Springbrunnen bis zum Rand der Friedhöfe ringsum seid Ihr durch die Straßen einer Stadt geschritten, in der selbst die Behausung des geringsten Bürgers nicht von Elend zeugt. Sie ist in ihrer Gesamtheit ein unvergängliches Loblied auf Einigkeit und Gleichheit. Dieses Volk zog wortwörtlich Gewinn aus dem Wissen, das es durch solch eine umfassende Gemeinschaft erworben hatte. Und dann verschwand es ohne eine Spur von Konflikten oder jeglichen Hinweis darauf, wohin es gegangen ist.« Der Mann starrte Sutter eindringlich an und war ganz eindeutig überzeugt davon, dass diese Tatsache offensichtlich war.
    Sutter schüttelte den Kopf. »Vielleicht wurde die Stadt erobert. Wenn die Bewohner überrumpelt und gefangen genommen wurden, sind
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