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Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte

Titel: Das Gewölbe des Himmels 2: Der Unrechte
Autoren: Peter Orullian
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werden. Aber der Fähigkeit, diese Wahl zu treffen, wohnt an sich schon Kraft inne. Es gibt Leute, die nicht über diese Kraft verfügen, die aber bestrebt sein werden, von deinem Anteil daran Besitz zu ergreifen.«
    Tahn war verwirrt.
    Der Mann fuhr fort: »Dein Leben ist ein kostbares Geschenk, das du vor einem bestimmten Feind bewahren musst. Man kennt diese Feinde unter vielen Namen, und sie werden oft einfach als ›die Uralten‹ bezeichnet. Sie sind hierzulande heute vergessen, da sie selbst dem Gedächtnis des ältesten Vorlesers entschwunden sind. Sie werden vielleicht als Versucher an dich herantreten, sogar als Boten, aber sie sind Scharlatane, deren Stolz sie dazu verdammt hat, ein Leben des Stillstands tief im Born zu führen. In tausend Menschenaltern haben sie sich aus ihrem Gefängnis hervorgearbeitet und damit begonnen, unter den Menschen umherzustreifen und wie Diebe ein Komplott zu schmieden, um zu stehlen, was ihr eigener Ehrgeiz ihnen genommen hat: die Möglichkeit, die Vermischung von Forda I’Forsa in ihrer eigenen Brust zu spüren.«
    »Und ich muss sie erschießen«, sagte Tahn naiv.
    »Nein, Junge, hör zu, was ich dir zu sagen habe.« Der Mann streckte einen Arm an Tahns Gesicht vorbei und deutete auf die Leere des Himmels über der großen Schlucht. »Du musst die Kraft des Spannens selbst erlernen und daran denken, nicht an den Pfeil. Sie ist mögliche Kraft, genau wie ein Findling, der oben auf einem Hügel liegt, und wäre deine einzige Waffe gegen sie.« Der Mann hielt inne und wollte Tahn anscheinend Zeit lassen nachzuvollziehen, was er gesagt hatte. Aber Tahn hatte noch nicht verstanden, was er meinte, bevor er fortfuhr: »Du musst die Hand zum Gruß ausstrecken, um die Ehrlichkeit eines Uralten auf die Probe zu stellen. Der Uralte wird dich begrüßen wollen und sich dabei selbst vergessen. Du wirst seine Handfläche nicht in deiner spüren. Daran wirst du erkennen, dass er es darauf abgesehen hat, dich zu vernichten.«
    Der Mann hörte auf zu sprechen, und Tahn wusste, dass es Zeit wurde, seinen Pfeil abzuschießen. Er blickte in die wachsende Helligkeit der Morgendämmerung und suchte sich ein Ziel: einen geschwärzten Baum tausend Schritt entfernt jenseits des Abgrunds, dann einen Berggipfel am Horizont, dann eine Wolke, die tief über die Hügel zu seiner Linken dahinglitt. Er konnte nichts von alledem treffen, und seine Finger begannen von der ununterbrochenen Belastung durch den gespannten Bogen zu schmerzen. Er holte tief Luft und atmete sofort wieder aus, wie der Mann es ihm geraten hatte. Aber seine jungen Arme konnten die Zugkraft nicht länger ertragen und begannen zu zittern. Der Schmerz, den es erzeugte, die Spannung aufrechtzuerhalten, brannte in seinen Schultern und schmerzte ihm in den Fingerknöcheln. War das die Lektion – sollte er die Kraft kennenlernen, die in der Waffe steckte? Lernen, dass ein Mensch ihr früher oder später unterliegen musste? Dass Forda I’Forsa als zwei Teile eines Ganzen gleichzeitig in einem Menschen vorhanden waren?
    Er ließ die Sehne los, und als die Anspannung aus den Wurfarmen schwand, wurde ihm klar, dass er keinen Pfeil angelegt hatte. Die Bogensehne summte, aber nichts segelte ins Morgenlicht. Spöttisches Gelächter tönte aus dem Himmel herab, brandete auf Wellen aus Nebel über ihn hinweg und streifte sein Gesicht wie der Kuss eines Trauernden, voller Kummer und Verlust. Tahn wirbelte herum, um den Mann anzusehen, aber hinter ihm lag nur Leere. Das Summen seiner Bogensehne stieg auf wie das Läuten einer großen Glocke: Die Vibrationen prickelten ihm in den Fingern und ließen seine Hand taub werden. Er verlor das Gefühl im Arm und ließ die Waffe fallen. Unter ihm wurde der Erdboden weiß, und der Fleck breitete sich aus, um allem die Farbe zu entziehen. In Panik schlug Tahn mit den Fäusten auf den Fels der Klippe ein und schrie, um etwas anderes zu hören als das schreckliche Summen. Als er nichts hörte, hielt er inne. Rasch hob er zwei große Steine auf und schlug sie gegeneinander. Kein Knacken. Es gab in seinem Kopf nichts als das nachhallende Surren der gelösten Bogensehne, und vor seinen Augen war nichts als farblose Erde.
    Tahn blickte auf und schrie in den Himmel empor.
    Er zuckte zusammen und erwachte in der Wildnis; sein Schrei erstarb, während er noch von den Bäumen ringsum widerhallte. Sutter schlief ungerührt. Ihr Führer dagegen stocherte mit einem dünnen Stock im Feuer und hielt den Blick auf Tahn
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