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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme
Autoren: Julia Krohn
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denn eine Kleidung, wie er sie trug, hatte sie noch nie gesehen: ein Leinenhemd von reinem Weiß, weder von Schweiß noch von Dreck befleckt. Genauso sauber und sorgfältig genäht waren die Hosen, die die Oberschenkel bedeckten. Während diese von mattem Grau waren, glänzte die Tunika in einem kräftigen Rot. Sie war mit Seide in einem Ockerton eingefasst – die gleiche Farbe, die auch die Schenkelbänder aufwiesen, die die Unterschenkel umhüllten. Der Graf trug Stiefel, fast kniehoch, aus glattem Leder. Sie saßen wie eine zweite Haut, als wären sie eigens für ihn gemacht worden, ebenso wie das Wams aus Otterfell, das eine goldene Spange an der Brust zusammenhielt.
    Sie wusste, irgendwo hinter diesem Staunen lauerten bittere Erkenntnisse. Ich habe keine Heimat mehr. Ich habe meinen Mann verloren. Es gab ein Kind – aber jetzt ist es fort. Doch all das, es schmeckte nach nichts, es roch nach nichts.
    Nicht so zumindest wie die Lampen mit Nussöl, die an den Wänden hingen und viel weniger bitteren Rauch verströmten als die Fackeln aus der Rinde von Birken, wie sie sie kannte, oder gar der Torf, mit dem sie ihre Hütte geheizt hatten und der für mehr Gestank als Licht sorgte.
    Hier hingegen, im Saal des Grafen von Laon, war es unglaublich hell. Als sie den Blick hob, sah sie von der Decke einen mehrarmigen Leuchter mit vielen kleinen brennenden Kerzen hängen. Er bestrahlte die feinen Bemalungen an den Steinwänden, wohingegen die Decke ihres Hauses stets vom Ruß verdunkelt gewesen war.
    Als sie den Kopf senkte, fühlte sich ihr Leib an wie tot. »Es hat keinen Sinn, sie zu befragen«, murmelte der Mann, der die ganze Zeit über an der Seite des Grafen gestanden hatte. »Sie ist viel zu erschöpft. Sie braucht Ruhe.«
    Der Graf zögerte einen Augenblick, dann beugte er sich dem Ratschlag und gab jener Frau einen Wink, die, wie Johanna mittlerweilewusste, Alpais hieß und seine Gattin war. Vorsichtig berührte die Frau Johanna an den Schultern, zog sie mit sich.
    »Kannst du … kannst du laufen?«, fragte sie. Ihre Stimme klang hoch und kraftlos wie das Fiepen einer Maus.
    Johanna nickte gedankenverloren. Sie hatte vergessen, dass ihre Füße bluteten; sie fühlten sich taub an wie der restliche Leib. Humpelnd verließ sie den Saal und stellte fest, dass der nicht der einzige beheizte Raum war. Viele weitere befanden sich rund um den Portikus, den Eingang – alle so riesig, dass ihre Bauernhütte mehrfach hineingepasst hätte–, und ein jeder hatte eine Türe mit einem Schloss daran. Ihre Hütte hatte man nicht versperren können. Sie hatten schließlich keine Reichtümer besessen, die sie vor den Nachbarn schützen mussten. Und hätte ein armseliges Schloss ausgereicht, um die Horden der Normannen aufzuhalten?
    Neben dem Hauptgebäude, das sie nun verließen, gab es noch weitere Räumlichkeiten: die Wirtschaftsgebäude, darunter den Keller, Scheunen und Ställe, viele Holzhäuser und solche aus Fachwerk, in denen wohl die Leibeigenen und Dienstboten schliefen. Ein steinernes Tor verschloss den Hof. Johanna konnte sich nicht erinnern, vorher hindurchgetragen worden zu sein. Eigentlich wollte sie sich auch nicht erinnern, wollte an gar nichts denken, sich nur dem eigenen Staunen anheimgeben. Dieses Staunen verstärkte sich, als sie den Garten sah, übervoll mit Blumen – Lilien und Rosen, Hornklee und Frauenminze. Wie nutzlos, dachte sie, nichts davon kann man essen. Doch reiche Menschen wie der Graf, das wusste sie, hatten genug zu essen; sie konnten sich an der Schönheit von Gottes Schöpfung erfreuen, auch ohne dass diese ihnen Nutzen einbrachte.
    Der Garten war schäbig klein, gemessen an der riesigen Küche, die sie alsbald durchschritt und die voll war von Feuerböcken, Ketten und Haken, vielen Kochkesseln aus Kupfer und Eisen, Salzfässern und Brotkästen. Mannshoch waren die Schränke, in denen das Geschirr aufbewahrt war: Krüge aus Zinn und Blei, Keramikschüsseln und Silberplatten.
    »Hast du Hunger?«, fragte Alpais. Ihre Stimme klang nicht mehr quietschend hoch, sondern warm und sanft. Johanna nickte, und dann stand schon eine Schüssel vor ihr – eine Schüssel, ganz für sie allein. So etwas hatte sie noch nie gehabt. Sie nahm den ersten Bissen, er schmeckte fremd. Die letzte Mahlzeit, an die sie sich erinnern konnte, war ein Eintopf aus Erbsen, Wicken und Saubohnen gewesen, wie die Bauern ihn aßen. Das jetzige Gericht hingegen war eine kräftige Brühe mit ganzen Fleischstücken, so
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