Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
dankbar, dass es meinen Freund gegeben hat. Erst als ich dir die ganze Geschichte erzählt habe, ist mir bewusst geworden, welche große Bedeutung Ruben für mich hatte, wie sehr sein Wesen meinen Lebensweg beeinflusst hat. Und ich habe begriffen, dass er mich niemals für das, was ihm am Kap zugestoßen ist, verantwortlich gemacht hätte. Der Moment, in dem ich gezögert habe, als er im Meer davontrieb, stand in keinem Verhältnis zu den Momenten, in denen ich alles für ihn gegeben hätte. Wir waren Freunde, ausnahmslos – und er wusste um meine Schwächen und Stärken. Aber an diesem Sommertag lag es nicht in meiner und auch nicht in Rubens Hand, dem Schicksal unseren Willen aufzuzwingen.«
»Weil ihr den Walfischknochen nicht bei euch hattet. Ist es das, was du meinst?«, hatte Greta gefragt.
Arjen hatte seine knochige Hand geöffnet, in der das Knochenstück lag. »Ich habe immer an den Walfischknochen geglaubt, so, wie ich an Ruben geglaubt habe. Darin bestand seine Macht. So gesehen war es ein Unglück, dass Adele seine Bedeutung damals nicht kannte, sicherlich hätte es sie ermutigt, andere Entscheidungen zu treffen. Vor allem was ihre Ehe mit Ole Ennenhof anging. Tief in seiner Seele hat Ruben nicht damit gerechnet, dass ihm etwas zustoßen könnte, und deshalb muss er vergessen haben, ihr davon zu erzählen. Wenn man jung ist, hält man sich ja für unsterblich …« Vorsichtig hatte Arjen den Walfischknochen an seine Lippen geführt und ihm einen Kuss aufgehaucht. Einen Abschiedskuss, wie sich herausstellte, denn anschließend hatte er ihn Greta gegeben. »Ab hier brauche ich ihn nicht mehr … Und ohnehin ist es deine Aufgabe, diese Geschichte zu Ende zu bringen. Das habe ich von Anfang an gespürt.«
Greta hatte widersprechen wollen, besonders da ihr das Wort »Ende« Kummer bereitete. Aber sie beugte sich dem Wunsch ihres Großvaters, und seitdem lag der Walfischknochen an der Silberkette um ihren Hals. Auch jetzt, als sie vor der Reetdachkate stand, spürte sie seine Berührung auf ihrer Haut, an die er sich schmiegte.
»Und?«, fragte Mattes, der hinter ihr stand, sodass sie seinen Birkenwaldduft einatmete. »Bist du bereit?«
»Einen Moment noch.«
Greta blickte über ihre Schulter zu den sonnenverbrannten Wiesen, von denen die Kate umgeben war. Lichtflecken tanzten über den Kiesweg, als eine Brise das Erlenlaub der Allee durcheinanderwehte. An diesem Nachmittag war der scheidende Sommer wieder lebendig und der Herbst nicht mehr als eine Ahnung in den tiefen Gold- und Grüntönen der Natur. Das Meeresrauschen klang von fern, und Greta schmeckte Salz auf den Lippen. Sie musste lächeln. Ja, dieser Ort gehörte ihr, daran bestand jetzt noch weniger Zweifel als zuvor. Und nun gehörte Magdas Haus endlich wieder einer Rosenboom – dank einer Summe, die Arjen ihr hinterlassen hatte. Entschlossen öffnete Greta die Tür und betrat die Kate.
»Ich will ja nicht ungeduldig erscheinen, aber allmählich könntest du mal etwas sagen«, merkte Mattes an, nachdem er ihr von einem Raum in den nächsten gefolgt war.
»Es ist unglaublich …«, brachte Greta atemlos hervor. »Wie hast du das bloß geschafft, obwohl die letzten Monate doch dermaßen hektisch für dich gewesen sind? Allein das viele Pendeln nach Meresund an den Wochenenden.«
Unwillkürlich stiegen Greta Tränen in die Augen, was ihr seit Arjens Beerdigung häufiger passierte. Es war, als würde der Druck, der sich durch den langen Abschied aufgebaut hatte, immer noch nach Ventilen suchen. Als Mattes ihr den Arm um die Schultern legen wollte, schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Sie hatte seinen Trost bereits über alle Maßen angenommen, außerdem gehörte dieser Moment ihnen beiden und der Kate, die Mattes in seinen wenigen freien Momenten hergerichtet hatte. Die Wände waren jetzt perlgrau, sandfarben und blassblau getüncht, die Holzbalken und die Türen frisch geschliffen. Von den alten Möbeln war keine Spur zu entdecken, dafür stand in der Stube ein gestreiftes Biedermeiersofa, das Greta durchaus bekannt vorkam. Der kleine Schreibtisch, der in Arjens ehemaligem Zimmer jetzt vorm Fenster stand, war dagegen neu, genau wie der dazugehörige Drehstuhl. Mit sanftem Druck brachte Mattes sie zum Sitzen, dann öffnete er eine Schublade und holte ein Notizbuch hervor, das er vor sie legte.
»Von Beekensiel geht ein ganz eigener Zauber aus, so viel steht fest, ansonsten hättest du dich wohl kaum bereiterklärt, hier zu leben. Aber weil
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