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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Autoren: Tanja Heitmann
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der in ganz Beekensiel bekannte Wortführer der Partei, der mit Kirchenverbot belegt worden war, nachdem er die letzte Weihnachtsmesse mit politischen Parolen ruiniert hatte.
    Arjen hörte, wie der schwere Mann sich näherte. Er glaubte, den Windzug seiner Bewegungen zu spüren, und trotzdem rührte er sich nicht. Das Dach vom Schuppen war zu weit fort, und er war nicht Ruben, dem unsichtbare Flügel wuchsen, wenn er sie brauchte. Als eine Diele hinter Arjen knarrte, wirbelte er herum und wechselte einen Blick mit Fred Denneburg, der bereits den halben Raum durchschritten hatte.
    »Moment mal.« Langsam hob Denneburg den Zeigefinger. »Du bist doch der Sohn von Thaisen Rosenboom, diesem alten Wichtigtuer. Dein Herr Papa hat mich vor ganz Beekensiel zum Affen gemacht, weißt du das? Er hat mich einfach aus seiner Kirche geschmissen, nur weil ich erwähnt habe, dass der angebliche Heiland ein verdammter Jude ist. Und ausgerechnet du, das Pfaffenkind, steigst bei mir ein?«
    Ein Grinsen breitete sich auf Denneburgs Gesicht aus. Offenbar gefiel ihm der Gedanke, den Nachwuchs vom widerspenstigen Pastor Rosenboom auf frischer Tat ertappt zu haben. Vor kurzem erst hatte es eine große Diskussion darum gegeben, dass Thaisen sich weigerte, seinen Sohn an den Veranstaltungen der Hitlerjugend teilnehmen zu lassen – offiziell wegen der zarten Gesundheit des Jungen. Nur war allgemein bekannt, dass der einzige Verbund, den der Herr Pastor akzeptierte, der seiner Kirche war. Wenn Denneburg jetzt Arjen zu fassen bekam, würde er ihn zweifelsohne auf den Marktplatz des Dorfes schleppen und lautstark bekannt geben, dass er den jungen Herrn Rosenboom beim Einbruch ertappt hatte. Für eine solche Schandtat würde Arjens angeblich ach so zarte Gesundheit ja gerade noch hinreichen.
    »Na, warte«, drohte Denneburg. »Dich werde ich lehren …« Weiter kam er nicht, denn eine Scherbe bohrte sich in seine nackte Fußsohle.
    Das derbe Schimpfwort, das Denneburg ausstieß, ließ Arjen seine Höhenangst vergessen. Ein Sturz aus dem oberen Stockwerk konnte unmöglich furchtbarer sein, als von diesem Ungetüm eingefangen zu werden. Vor allem wenn das Ungetüm seinetwegen Schmerzen litt.
    Mit einem Satz sprang Arjen auf die Fensterbank und sogleich weiter ins Freie, warf seinen Körper nach vorn und spürte prompt, wie er wegsackte, wie die haltlose Tiefe an ihm sog. Im letzten Moment packten Finger sein nass geschwitztes Hemd und verliehen ihm den nötigen Schwung, um das Schuppendach zu erreichen. Seine Hüfte schlug hart gegen die Traufe, während seine Beine ins Leere fuhren, doch sein Oberkörper lag sicher auf Rubens Schoß.
    »Mist, verdammt«, brachte Arjen atemlos hervor. »Mist, verdammt, verdammt, verdammt. Zur Hölle mit dir und deinen Schnapsideen!« Das sonst immer aufs strengste verbotene Fluchen fühlte sich wunderbar an, genau wie Rubens fester Griff. Sogar der Schmerz in seinem Hüftknochen gab Arjen das Gefühl, lebendig – ja, unbesiegbar zu sein.
    »Das war keine Schnapsidee, sondern eine Herausforderung des Schicksals«, erklärte sein Freund würdevoll, doch in seinen Augen blitzte es, als er auf die Kette um seinen Hals deutete.
    Ein Bogen, breit wie der Handteller eines Kindes, zeichnete sich unter Rubens fadenscheinigem Hemd ab. Für einen Außenstehenden sah er aus wie ein zu groß geratener Anhänger an einem Lederband. Arjen hingegen wusste nur allzu gut, welcher Schatz dort verborgen lag. Ein wundersames Geheimnis, dessen Macht er am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Allein bei seinem Anblick glaubte er, seine Kraft zu spüren, während die Gewissheit zunahm, mehr als nur ein Junge auf einer abseitigen Nordseeinsel zu sein, mehr als Thaisen Rosenbooms stiller Sohn … Er gehörte zu Ruben, und er war als Einziger in das Geheimnis eingeweiht worden, das diesen charismatischen Jungen in die Einsamkeit von Beekensiel verschlagen hatte.
    »Na ja, zumindest so viel Schicksal, wie man aus diesem elenden Kaff herausholen kann«, fügte Ruben grinsend hinzu.
    Arjen begann zu lachen, wild und frei, und vergaß den tobenden Denneburg und seine Verwünschungen. Er verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran, welche Folgen dieser Zwischenfall und der geliehene Fotoapparat haben würden. Für ihn – und noch mehr für Ruben. Stattdessen stemmte er sich auf die Beine und lief hinter seinem Freund her, eine Hand an den sonnenerhitzten Schindeln, um das Gleichgewicht zu halten, obwohl er wusste, dass er nicht fallen
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