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Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman

Titel: Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Autoren: Tanja Heitmann
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Kindheit unter Apfel- und Birnbäumen verbracht, während ihr Großvater Arjen damit beschäftigt war, Unkraut zu jäten, Zweige zu beschneiden und sonstige Gartenarbeiten zu erledigen. Noch immer klangen ihr die Shantys in den Ohren, die er dabei gesungen hatte – vermutlich nur ihr zuliebe, denn niemand sonst hatte Arjen je singen gehört. Ohnehin war ihre Beziehung schon immer etwas Besonderes gewesen, und wenn sie zurückblickte, gestand Greta ohne Zögern ein, dass ihr Großvater der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war.
    Ihre Mutter Anette konnte darüber nur den Kopf schütteln. »Da gibt man sich so viel Mühe mit seiner Jüngsten, verhätschelt sie von vorn bis hinten, und was kommt dabei heraus? Ihr Großvater ist die erklärte Nummer eins!«
    Damals war Anette eifersüchtig auf ihren Schwiegervater gewesen, dem die Menschen zugetan waren, obwohl er es keineswegs darauf anlegte. Nach über vierzig Jahren als Landarzt hatte er vermutlich so viel gesehen und erlebt, dass er nicht mehr von den Menschen forderte, als sie zu geben imstande waren. Gelassenheit und ein kaum zu trübender Frohsinn zeichneten Arjen Rosenboom aus. Der Tag, an dem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, kam einem Volkstrauertag in Meresund gleich. Mittlerweile stand auch Anette anders zu ihrem Schwiegervater, denn nachdem ihr Mann Carsten bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte sie sich kurzerhand bei dem verwitweten Arjen einquartiert. Ihre Wohnung war ihr plötzlich unerträglich verwaist vorgekommen, und die wenigen Stunden, die sie an der Grundschule unterrichtete, hatten einfach nicht genug Ablenkung geboten.
    »Auf diese Weise können wir uns gegenseitig in unserer Trauer beistehen«, hatte Anette erklärt, als sie mit gepackten Koffern und rotgeweinten Augen vor Arjens Tür stand. »Sobald wir zwei Hübschen wieder festen Boden unter den Füßen haben, kehre ich selbstverständlich in meine Wohnung zurück.«
    Dieser Fall war bis heute nicht eingetreten.
    Nach außen machte es den Eindruck, als sei Anette eine treusorgende Schwiegertochter – was sie auch war. Nur war Arjen trotz seiner fünfundachtzig Jahre kein Mann, der versorgt werden musste. Ganz im Gegenteil, er kannte sich hervorragend in Haushaltsdingen aus, denn seine Frau Elisabeth hatte neben den drei Kindern auch in der Praxis ausgeholfen, die mit im Backsteinhaus untergebracht war. Es war eine kleine Praxis gewesen, wie sie für einen Landarzt im Nachkriegsdeutschland typisch gewesen war: Die Diele diente als Empfangsbereich, und das Behandlungszimmer war dort, wo eigentlich der Wirtschaftsraum vorgesehen war. Mehr brauchte es damals nicht, denn die meiste Zeit brachte Arjen ohnehin damit zu, die weit verstreut lebenden Patienten auf ihren Höfen zu besuchen. Dass nun Anette hinter ihm herputzte und glaubte, ihm seine Tabletten in Bogenform angerichtet auf dem Frühstückstisch bereitlegen zu müssen, ertrug er stoisch. Wie Greta ihren Großvater kannte, ging ihm die gluckenhafte Anette bestimmt auf den Geist, auch wenn er sich niemals beschwerte. Vermutlich wusste er besser als jeder andere, dass es die verschiedensten Arten der Trauer um einen geliebten Menschen gab. Anette verarbeitete ihren Verlust, indem sie den Vater ihres verstorbenen Mannes zu ihrem Lebensmittelpunkt machte und sich einredete, zu beschäftigt zum Trauern zu sein. Nachdem Arjen vor drei Jahren an Knochenmarkkrebs erkrankt war, hatte sie ihre Wohnung schließlich gekündigt und war endgültig bei ihm eingezogen, obwohl er die Krankheit rasch überwunden hatte.
    Es ging bereits auf den späten Nachmittag zu, als Greta ihren Mietwagen in der Asmussengasse vor dem Backsteinhaus parkte. Der kräftige Septemberwind brachte Salz vom Meer mit, das sich auf ihre Lippen legte und ihr das Gefühl gab, spätestens jetzt zuhause angekommen zu sein. In den Heckenrosen, die den Vorgarten eingrenzten, steckten Papierblumen, und über der breiten Eingangstür hing eine Girlande aus Tannengrün, die eine goldene »85« zierte. Vorfreude stieg in Greta auf, und sie schüttelte die Erschöpfung nach der langen Fahrt ab. Was ihr jetzt noch fehlte, waren die Geschenke. Das Geschenk , korrigierte sie sich sogleich, denn bereits bei Stuttgart war ihr eingefallen, dass die liebevoll ausgesuchten Kleinigkeiten für ihre Neffen und ihre Nichte auf dem Sideboard in Eriks Haus liegen geblieben waren.
    Greta öffnete den Kofferraum und blickte ratlos auf das Durcheinander. Irgendwo zwischen oder auch in
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