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Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)

Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)

Titel: Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
Autoren: Dieter Nuhr
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Schützengräben in Frankreich, halbvereiste Soldaten auf dem Rückweg aus Russland schleichen vorbei an jenen, die tiefgefroren am Wegesrand liegen. Die Funker funken nicht mehr. Kein Netz. Die Welt war früher ein einziges Funkloch. Entsetzlich!
    Der Dritte Weltkrieg könnte irgendwann wegen einer fehlenden Flatrate verloren werden. Die westliche Welt steht kurz vor dem Sieg, da erscheint die Meldung: „Die Volumengrenze ihres Datentarifs ist erreicht. Zu Beginn des nächsten Monats steht Ihnen wieder die volle Bandbreite zur Verfügung.“ Todeskommandos wollen ihre Angriffe koordinieren, aber die MMS gehen nicht raus. Die Krieger fluchen. Dabei ist eh schon schlechte Laune. Im Display ist ein Sprung. Streifschuss. Die Partisanen werden über die Funktion „Ihr iPhone finden“ geortet und gefangen genommen und beschließen, nie mehr auf die dusseligen 3Flats-in-einer-Angebote hereinzufallen. „Buchen Sie Ihre Flats flexibel“ hatte es geheißen. Aber wie, wenn an der Front immer wieder der Empfang abreißt? Hitler hat sich im Führerbunker vielleicht nur deshalb erschossen, weil er die Rechnung für die Auslandstelefonate seit 1939 erhalten hatte. Auch Historiker wissen nicht alles.
    Während sich die Bilder vorwärtsbewegen, liege ich behütet im Warmluftraum unter meiner Daunendecke. Am Ende der Nacht gebiert der Schlaf Ungeheuer. Berlin 1945. Für viele, vor allem jüngere Menschen bedeutet diese Jahreszahl heute ähnlich viel wie die Ziffernkombination 333 (Schlacht bei Issos) oder 1789 (Uraufführung der komischen Oper „Der Schulz im Dorf oder Der verliebte Herr Doctor“ von Justin Heinrich Knecht in Biberach an der Riß). Ich aber bin ein Kind der Nachkriegszeit und habe noch schwarz-weiße Erinnerungen. Ich habe Sanostol und Caro-Kaffee getrunken. Ich will Frieden.
    In der Folge: unruhiges Wälzen. Mein Weckprogramm berücksichtigt die Schlafphasen und kommt zu dem Ergebnis, dass nun der perfekte Zeitpunkt zum Aufwachenerreicht ist. Noch liege ich, aber häufiges Wenden erkennt mein Smartphone als sicheres Zeichen für das Erreichen meiner mentalen Dämmerung.
    Ich liege im halbwachen Zustand da und denke darüber nach, ob der Tod auch im 21. Jahrhundert immer noch eine Sense benutzt. Oder kommt er im Morgengrauen auf einem fetten Sitzrasenmäher mit 13 Liter Tankvolumen, pendelnder Gussvorderachse, siebenfacher Schnitthöhenverstellung und elektrischer Messerkupplung? Heldenhaft durchpflügt der Sensenmann den Morgennebel! Dann röhrt sein 17,5-PS-Einspritzmotor die Nachbarschaft aus dem Bett, bevor er den Abzulebenden zerschreddert und im Grasfangkörbchen sammelt, um ihn der Ewigkeit zuzuführen. Ich fände das großartig. Ganz ehrlich! So habe ich mir meinen Tod immer vorgestellt: Wenn meine Seele den Körper verlässt, soll die Menschheit aufschrecken und sich fragen: Wo kommt der Krach her, morgens um sieben …?
    Es gibt so vieles, was ich mir nicht erklären kann: Warum schellen die Zeugen Jehovas nicht mehr bei mir? Hätte ich mir beim Türöffnen etwas anziehen sollen? Körperliche Offenheit wirkt auf religiös blockierte Persönlichkeiten oft verstörend. Andererseits: Warum soll ich mir von ungefragt klingelnden Fremden vorschreiben lassen, was ich im eigenen Hause anzuziehen habe? Bin ich damals von zu Hause ausgezogen, damit nun, statt meiner Mutter, religiöse Kräfte die Bestimmungshoheit übernehmen?
    Immer muss man sich nach anderen richten! Überall Fremdbestimmung! In der Kindheit ist es die Mutter, die einem dicke Socken aufzwingt, weil sie selber kalte Füße hat.
    Später wird diese Rolle von der Freundin übernommen, die die Musik avantgardistischer Undergroundbandsablehnt und stattdessen Dancefloortaugliches vorschreibt.Am Ende wird die Herrschaft vom Staat übernommen. Er bestimmt, wie mein Grabstein auszusehen hat, wann ich einkaufen darf und wo ich rauchen soll. Dabei rauche ich gar nicht! Ist es eigentlich erlaubt, sich in einer Raucherlounge aufzuhalten, ohne zu rauchen, einfach weil man es liebt, sich über Raucher zu beklagen, die die Luft verpesten? Ich würde gerne Jesus fragen, aber er antwortet nicht. Und Winston Churchill ist tot. Exakt wie Jesus. Oder Ghandi. Wenn man eins aus der Geschichte lernen kann, dann ist es, dass auch die Unsterblichen sterben. Wenn ich es mir recht überlege, sind fast alle Unsterblichen bereits von uns gegangen. Und beim winzigen Rest ist es eine Frage der Zeit.
    Ghandi war ein großer Mann! Eine Auferstehung hätte auch ihn als
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